Irgendwann in der Nacht zum 26. September wird Wolf Biermann durch das Vibrieren seines Handys wach. Eine Eilmeldung verkündet, dass die Linkspartei nur 4,9 Prozent bei der Bundestagswahl errungen hat. „Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf“, will der gläubige Atheist laut gedacht haben. Sein galliger Humor ist Biermann geblieben, ebenso wie sein Groll gegenüber den DDR-Machthabern, die ihn jahrzehntelang gemaßregelt, verfolgt und schließlich ausgebürgert haben. Einer, der so tief verletzt wurde, kann und will auch den Erben und Rechtsnachfolgern der einstigen sozialistischen Diktatur nicht verzeihen. Warum sollte er auch? Am Montag wird der Liedermacher und Lyriker 85 Jahre alt.
Als 16-Jähriger lässt sich der gebürtige Hamburger 1953 in der DDR freiwillig einbürgern, 1976 wird er unfreiwillig ausgebürgert. Ein Leben gegen den Uhrzeigersinn. Nach dem Mauerfall beginnt für Biermann eine schwierige Zeit im „Niemandsland zwischen Ost und West“. Noch ist er Kommunist, doch dafür ist im Westen kein Bedarf. Das DDR-Regime, sein natürlicher Feind und Antriebsfeder für aufmüpfige Kunst, der Anlass zur moralischen Entrüstung, kommt ihm über Nacht abhanden. Er zieht sich ins Private zurück, schreibt Lyrik und Liebeslieder. Jahre später besucht er in Paris den Philosophen Manès Sperber. Der zieht ihm „den verfaulten kommunistischen Backenzahn“ und macht ihm klar, dass nun Biermanns Verstand nachholen müsse, was sein Gefühl längst erkannt habe: Die Abkehr von der ideologischen Verhärtung, die Befreiung des Geistes von fremdbestimmten Dogmen jeder Art. Biermann wird Kolumnist konservativer Zeitungen, macht aus seiner Verehrung für Angela Merkel kein Hehl und freut sich nun auf einen Bundeskanzler Olaf Scholz. „Nur wer sich ändert, bleibt sich treu“, sagt er heute.
Auch hier bietet Biermann wieder ein spiegelverkehrtes Abbild der meisten Kulturschaffenden aus den neuen Bundesländern. Viele von ihnen befinden sich gefühlt noch immer in diesem Niemandsland zwischen Ost und West. Einerseits betonen sie ihre DDR-Sozialisation, fordern Respekt für die Lebensleistung ihrer 17 Millionen Mitbürger, pochen auf ihre Ost-Identität, können aber anderseits erst in der Überwindung des Systems zu sich selbst finden und ihre Kunst entfalten, Erfolg und Anerkennung ernten. Prominentes Beispiel ist Regisseur Frank Castorf. Erst mit einigen provokanten Inszenierungen im Westen und ab 1992 als langjähriger und legendärer Intendant der Berliner Volksbühne erlangt er Ruhm und Ansehen. Der Sozialist aus Überzeugung gehört längst zu gefragten Regisseuren an Opernhäusern in aller Welt und durfte selbst bei den Bayreuther Festspielen Wagners „Ring des Nibelungen“ inszenieren.
Ähnliches gilt für seinen Regie-Kollegen Leander Haussmann. In der DDR überwiegend an Bühnen der Provinz engagiert, schließt er nach der Wende zu den wichtigsten deutschsprachigen Theatern auf, bevor er sich mit „Sonnenallee“, „Herr Lehmann“ und vielen anderen Filmen einen Namen macht. Dazu gehört auch Andreas Dresen und seine Filme „Sommer vom Balkon“ und „Gundermann“. Blickt man auf die Besetzungslisten von Theater, Film und Fernsehen, sind Schauspieler und Schauspielerinnen aus den neuen Bundesländern überproportional erfolgreich. Corinna Harfouch, Jan Josef Liefers, Anna Loos, Nora Tschirner, Karoline Herfurt und Devid Striesow sind nur einige von vielen.
In der Literatur haben vor allem Ingo Schulze und Jenny Erpenbeck den Übergang von der DDR in die Bundesrepublik in ihren Werken verarbeitet. Schulze gelingt es, das deutsche Zusammenwachsen nüchtern, präzise, ganz ohne Ostalgie und Selbstmitleid zu beschreiben. Günter Grass hielt ihn für einen der großartigen Erzähler der neuen Bundesländer. Von diesem Rang ist auch Jenny Erpenbeck. Vielfach preisgekrönt erzählt sie in ihrem Roman „Kairos“ vom Untergang der DDR. Doch es sind noch mehr, die den gesamtdeutschen Literaturbetrieb bereichert haben. Lutz Seiler gehört dazu, ebenso wie Durs Grünbein und der wegen seiner Äußerungen zur Flüchtlingspolitik umstrittene Uwe Tellkamp.
Demokratie lernen - das dauert
An der Kultur liegt es jedenfalls nicht, wenn immer wieder die fehlende Augenhöhe zwischen Ost und West beklagt wird. Jubilar Wolf Biermann sieht das mit seinen nunmehr 85 Jahren gelassen: „Wieso muss es sich eigentlich angleichen? Was ist denn das für eine neue Religion?“, fragt er vor kurzem in einem Interview. „Ich brauchte viele Jahre, um die Demokratie unserer Gesellschaft zu lernen.“ Zerstörte Häuser, Straßen und Brücken ließen sich nach einem Krieg schnell wieder aufbauen. „Aber die Verwüstungen in den Menschen sind komplizierter, komplexer und langwieriger“.
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