Stuttgart. „Da schwimmt ein Plastik-Elefant“, singt Josephe, „es riecht nach Rumrosinen-Eis“. Harmlose Sätze, mit denen man eine sommerliche Szene am Meer assoziieren könnte. In Toshio Hosokawas Oper „Erdbeben. Träume“ aber, die nun am Stuttgarter Opernhaus uraufgeführt wurde, sind es Metaphern für die Auflösung der Welt nach einer Katastrophe.
Ein Beben hat die Erde erschüttert, wenige Überlebende versammeln sich vor den Trümmern der Stadt, darunter Josephe, die durch das Beben in letzter Minute ihrer Hinrichtung wegen Unzucht entgangen ist. Mit ihrem Geliebten Jeronimo, der im Gefängnis saß, kehrt sie zurück in die Stadt. Bei einem Dankgottesdienst werden beide von der aufgehetzten Masse erschlagen.
Von Kleists Text entfernt
Toshio Hosokawas Auftragswerk liegt Heinrich von Kleists Novelle „Das Erdbeben von Chili“ zugrunde, ein knapper Text, in dem Kleist zeigt, wie dünn der Firnis der Zivilisation in Wirklichkeit ist: stürzt die Fassade der Kultur zusammen, bricht sich Gewalt Bahn. Es empfiehlt sich, die Novelle vor dem Besuch der Oper zu lesen. Denn nicht nur ist Marcel Beyers Libretto weniger eine Nacherzählung des Plots als dessen sprachlich-atmosphärische Interpretation. Auch wird die Handlung aus der Sicht von Philippe, dem überlebenden Kind von Jeronimo und Josephe, im Rückblick erzählt. Realität und Traum werden in der Inszenierung von Jossi Wieler und Sergio Morabito dabei ebenso übereinander geblendet wie die Zeitebenen - ästhetisch ist das brillant, erschwert aber das Verständnis der Handlung.
Inszenatorisch steht nicht das Erdbeben in Santiago de Chile von 1647 im Mittelpunkt, auf das sich Kleists Text bezieht, sondern das Beben in Japan von 2011 und die darauf folgende Reaktorkatastrophe von Fukushima. Anna Viebrock hat eine Endzeitkulisse auf die Bühne gebaut: Ein Betonbunker auf einem zerklüfteten Untergrund, in den die Menschen kopfüber hineingezogen werden. Keine Hoffnung, nirgends.
Das Grauen prägt die Atmosphäre
Das Grauen prägt die Atmosphäre, wie schon Philippe zeigt, der in seiner stummen Rolle gleich zu Beginn traumatisiert mit den Händen um sich schlägt, sich schmerzerfüllt die Ohren zuhält, zittert. Überall in seiner Sprache spielt der Librettist Marcel Beyer virtuos mit Metaphern des Schreckens. Da werden Köpfe zerkaut, Menschen trinken Trümmerwasser oder haben verseuchtes Milchpulver im Gesicht.
Die passende akustische Folie liefert der Komponist Toshio Hosokawa. Die Oper beginnt mit einem fahlen Brausen, als bläse der Wind durch die Ruinen. Das Naturhafte ist integraler Bestandteil dieser Klänge, die sich wie Naturereignisse ständig in organischer Veränderung befinden, sich verdichten, ausfransen, auflösen, um sich wieder neu zu formen. Hosokawas Musik ist dabei keineswegs illustrativ, versucht sich nicht am äußerlichen Abbild der schrecklichen Ereignisse - sie erzeugt den Schrecken emotional, in der Seele des Hörers. Am eindringlichsten im Orchestermonolog „Erdbeben.Tsunami“, das die Regie kongenial mit einem Auf- und Abschaukeln der Bühne in Zeitlupe unterstützt. Man meint, das ganze Opernhaus würde ins Schwanken geraten.
Das alles ist, ohne Zweifel, erstklassig gemacht. Wieler und Morabito zeigen in ihrer letzten Regiearbeit noch einmal ihre herausragenden Qualitäten, was Personenführung und psychologische Ausleuchtung der Figuren anbelangt. Die Sänger erfüllen ihre Rollen vokal wie darstellerisch mit Bravour: Esther Dierkes als geschwängerte Josephe, Dominic Große als ihr Liebhaber Jeronimo. Sylvain Cambreling bringt mit dem Staatsorchester die perkussionslastige Musik in ihrer schneidenden Dringlichkeit zum Ausdruck.
Wohl noch nie konnte man auch das dem fallenden Vorhang folgende Ritual derart deplatziert empfinden: Gerade noch liegt die (Bühnen-) Welt in Trümmern, dann wird ein Schalter umgelegt, und alle jubeln.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/kultur_artikel,-kultur-das-gesamte-opernhaus-scheint-zu-schwanken-_arid,1276511.html