Auch im Hause Goethe wurde eine Tinte von besonderer Sorte verwendet. Es war die Zeit, als man sich, wenn man schreiben wollte, sie noch selbst mischen musste. Zu kaufen gab es sie in jenen Jahren nicht.
Und doch gibt es eine Fülle von Briefdokumenten aus dieser Zeit, die von dem Schreibeifer der Menschen zeugen - und von ihrem Glauben an den Brief als das Einzige, was die ewige Ferne bezwingt. Indes: Davon kann heute keine Rede mehr sein. Im Zeitalter konkurrierender Medien, von Telefon und Fax, E-Mail, SMS und der digitalen Grußkarte mit animierten Weihnachtsmännern oder in Flash-Filmchen gegossener Botschaft, hat der Brief so gut wie kaum noch eine Chance. Für die meisten ist er ein Relikt vergangener Epochen, ausgeliefert spöttischer Verachtung und kulturkritischer Kleindeuterei.
Im 19. Jahrhundert spiegelte der Brief noch die offizielle Hierarchie der Wertvorstellungen jener Zeit. Johann Fürchtegott Gellert hatte sich schon im 18. vom schwülstigen Schreibstil der höfischen Gesellschaft verabschiedet und der Briefkultur einen natürlichen Schreibstil verordnet. Doch im Volk behauptete sich gerade auch in der Anrede eine gewisse hierarchische Distanz. Zum Beispiel findet man in kleinen sprachlichen Indizien die Herrschaft des Vaters immer wieder bestätigt: "Mein Sohn! Ich und Deine liebe Mutter .. ." Oder: "Nie wird Deine Mutter aufhören, Dich zu lieben, und ich werde zeitlebens verbleiben Dein treuer Vater."
Gänsekiel und Federhalter
Die in die Tinte getauchte Gänsefeder musste ein paar Jahrzehnte später dem Füllfederhalter weichen, Gottfried Benn geriet in hellste Verzückung, als er von seiner ehemaligen Geliebten Gertrud Zenses aus Amerika den ersten Kugelschreiber erhielt, "ein herrlicher Füllfederersatz, der mein ganzes Glück ist, weil es etwas so Brauchbares in ganz Germany nicht giebt".
Nietzsche hatte immerhin schon ein paar Jahrzehnte vorher mit der ersten Schreibmaschine gearbeitet. Allerdings hegte er Bedenken, die ähnlich dem einen oder anderen auch beim Schreiben mit dem Computer kommen: "Das Schreibwerkzeug arbeitet mit unseren Gedanken." So findet sich in einem von Nietzsche an seinen Freund Peter Gast getippten Brief der handschriftliche Vermerk: "Teufel! Können Sie das auch lesen?!" Die "Briefkultur" konnte sich auf berühmte Vorbilder berufen. Zum Beispiel auf den Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller. Auch der lebte von der räumlichen Distanz zwischen den Schreibenden. In den Jahren 1795 bis 1799 wechselten beide zwischen Weimar und Jena die Briefe nahezu täglich.
Das Bemühen, sämtliche Briefe bedeutender Persönlichkeiten zu veröffentlichen, war früh zu beobachten. Ludwig Börne spottete: Herr von Goethe werde zuletzt noch seine Säuglingswindeln herausgeben.
Goethe und Schiller haben sicherlich geahnt, dass man ihre Briefe einmal veröffentlichen werde. Deswegen enthielten sie auch nichts, was ihren Autoren unangenehm und peinlich hätte sein müssen. Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel, wenn Schiller etwa an Theodor Körner schreibt: "Könntest Du mir innerhalb eines Jahres eine Frau von 12 000 Thalern verschaffen, mit der ich leben, an die ich mich attachieren könnte, so wollte ich Dir in 5 Jahren - eine Fridericiade, eine klassische Tragödie und weil Du doch so darauf versessen bist, ein halbes Dutzend schöner Oden liefern - und die Academie in Jena möchte mich dann am A . . . lecken."
Obsession der Verfasserschaft
Neuromantiker Rilke steigerte im Brief die Lust am Selbst zur poetischen Obsession: "O Lou", schreibt er an die Ex-Geliebte Lou Andreas-Salomé, "in einem Gedicht, das mir gelingt, ist viel mehr Wirklichkeit als in jeder Beziehung oder Zuneigung." Die Antwort kam postwendend: "Ich glaube, dass du leiden musst." Und dann der letzte Brief. Er kann zufällig der letzte sein, ohne dass dies dem Autor bewusst ist. Oder eben doch - wie im Fall des Philosophen Bertrand Russell, der sich schwungvoll von seiner in 30-jährigen Liebesdiensten ergrauten Gefährtin verabschiedet: "Ich will deinen Geist, meine Liebste." Und Heinrich von Kleist unmittelbar vor seinem Selbstmord an seine Schwester: "Die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war." Der Brief als künstlerische Form des "Ferngesprächs", bei dem es dann heißen kann: Kein Anschluss unter dieser Nummer.
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