"Der Schaum der Tage"? Ist das nicht jener Roman von Boris Vian, der vom Zweitausendeins Versand promotet wurde, den aber trotzdem nur wenige gelesen haben? Der russische Komponist Edison Denisov hatte das Buch schon in den 1960er Jahren kennengelernt, doch erst 1981 vollendete er, nach über vierjähriger Arbeit, die Partitur zu seiner gleichnamigen Oper. Seit der Uraufführung in Paris ist sie erst dreimal an anderen Häusern inszeniert worden, zuletzt 1994 in Mannheim. Einiges spricht dafür, dass die umjubelte Stuttgarter Neuinszenierung durch das Regieduo Jossi Wieler und Sergio Morabito nun dem grandiosen Stück den Weg ins Repertoire ebnen könnte.
Die Hauptakteure bilden zwei Paare: der reiche Colin, der sich in Chloe verliebt, die sich wie Mimì aus "La Bohème" zu Tode hustet. Sein Freund Chick liebt Alise, noch mehr als ihr ist er aber den Büchern seines Idols Jean-Sol Partre(!) verfallen. Wieler/Morabito gelingt es kongenial, den latenten Traumcharakter der Szenen nicht durch allzu platte Visualisierungen zu zerstören, indem sie den Bühnenraum als Fantasieraum anlegen und stets der Musik den Puls fühlen. Der größte Teil spielt auf der Vorderbühne (Jens Kilian) in einem großen Zimmer, das seitlich durch Holzwände, zur Hinterbühne durch eine transparente Wand begrenzt ist, auf die der Videokünstler Chris Kondek seine einfühlsam-fantasievollen Animationen projiziert.
Französische Leichtigkeit
Colin (mit leicht geführtem, lyrischen Tenor: Ed Lyon) ist ein naiver Bohemien, der lange nicht so recht versteht, was da mit ihm geschieht. Ebenso wenig wie Chick (Daniel Kluge): ein bebrillter Nerd im Partre-Fieber. Die schrillste Figur ist Nicolas, der Koch (Arnaud Richard), ein Bassbariton von Format. Die auch szenisch sehr präsente Sophie Marilley überzeugt als Alise, Rebecca von Lipinski als Chloé. Auch der Chor ist glänzend eingebunden, ja, die Musik insgesamt ist überwältigend.
Die französische Leichtigkeit der Partitur bringt Sylvain Cambreling mit dem durch Jazzband, Celesta, Vibrafon und Schlagwerk erweiterten Staatsorchester konzis zum Ausdruck. Nein, vergleichbar Beeindruckendes hat man lange nicht gehört und gesehen, auch in Stuttgart nicht.
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