Vor 50 Jahren starb Rolf Dieter Brinkmann. Er wurde ganze 35 Jahre alt. Seinem geradezu absurden Tod – er überquerte eine Straße, von einem Poetry Slam in London kommend, als er wegen des ihm ungewohnten Linksverkehrs von einem Auto angefahren wurde – hatte er den eigenen Grabspruch längst vorausgeschickt: der Tod wird kommen „wie einer, der zufällig vorübergeht …“.
Jetzt ist sein Opus magnum „Westwärts 1 & 2“, ergänzt um 26 neu aufgetauchte, so rasante wie abgründige Gedichte, in einer endgültigen Edition herausgekommen. Er hatte dafür posthum den Petrarca-Preis erhalten; das Buch gilt bis heute als einer der wichtigsten Gedichtbände des 20. Jahrhunderts. Im Nachwort klärt sein Biograf Michael Töteberg über die Funde auf.
Sein ganzes Leben einer Bestandsaufnahme unterzogen
Werfen wir einen Blick zurück. Schon früh hatte sich Brinkmann zu einer Existenz als freier Schriftsteller entschlossen; ab 1960 brachten ihm zahlreiche London-Aufenthalte die zeitgenössische anglo-amerikanische Lyrik nahe. Die holte er nach Deutschland, wo er selbst ein führender Lyriker wurde. Seinen Lebensunterhalt bestritt er schlecht und recht via Stipendien, wie dem der Villa Massimo in Rom. 1970 brach er mit dem Literaturbetrieb und widmete sich nur noch seinen collagierten „Materialienbänden“.
Als er 1974 endlich seinen „Westwärts“-Band abliefert, weit über 300 Druck-, dazu die Fotoseiten, muss sein Lektor heftig bremsen. So kam das Buch verstümmelt heraus. Und es schlug ein wie eine Bombe. Wochenlang stand es auf Platz 1 der SWR-Bestenliste. Brinkmann hatte sein gesamtes Leben einer Bestandsaufnahme unterzogen. Seine Texte bergen einen Erkenntniswert, der über jede Konvention, völlig anarchisch, weit hinausgeht. Das zweiteilige Titelgedicht thematisiert in seiner Formel „Westwärts 1“ den Mythos der besiedelnden Eroberung des Westens, die er als Gast in Austin/Texas hochgestimmt bedenkt, doch diese Zielpunkte zerfallen unmerklich zu einem „wüsten, alltäglichen Alptraum“, wie ihn auch Brinkmanns Fotos atmen.
Eigensinnige Gedichte von überwältigender Bildkraft
Über die „Westwärts“-Gedichte schrieb der Autor: „Ihre Themen sind das alltägliche Leben in der Gegenwart, Sexualität, die Umgebung, die Unruhe .... Fragmente aus Unterhaltungen, Erinnerungen und Lektüre machen die Gedichte, die oft lange ausschweifende … rauschhafte Texte sind, zu einem intensiven Erlebniswirbel“. Und: „Es ist ein subjektives Buch … und kann ebenso gut als ein zusammenhängendes Prosabuch, Gedichtbuch wie ein Essaybuch gelesen werden.“
Dem ist fast nichts hinzuzufügen. Der immer wieder provozierende Rebell verfasste eigensinnig jederzeit Gedichte von überwältigender Bildkraft. Er protokolliert seinen Alltag, Reisen, Schnappschüsse von epochaler Dichte des abendländischen Kulturzerfalls. Wie flüchtig und jämmerlich die Gegenwart sich gibt – Brinkmann treibt sein Erleben bis zur nervenzerreißenden Erschöpfung. Es ist überfällig, dies grandiose Lebenswerk, eine Entdeckung sondergleichen, einer neuen Lesegeneration so gewissenhaft, wie hier geschehen, auf 426 schön gedruckten Seiten und lückenlos wie nie zuvor bereitzustellen.
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