Auf elf Bände hat Andreas Maier sein autobiografisch grundiertes Erzählwerk mit dem Obertitel „Ortsumgehung“ angelegt. In kontinuierlich größer werdenden Kreisen rekapituliert der Erzähler darin sein Aufwachsen in der oberhessischen Wetterau. Das Werk ist gleichermaßen kollektive Seelengeschichte wie poetisches Protokoll einer Ich-Findung und Weltaneignung im Mikrokosmos der Provinz.
Im vorangegangenen sechsten Band hatte der Erzähler sich ein entscheidendes Stück aus seiner kleinen Welt hinausbewegt und in Frankfurt ein Studium aufgenommen. Dabei deutete sich schon an, dass die Erzählung zukünftig wohl nicht mehr einer mehr oder weniger geradlinigen Chronologie folgen würde. Im neuen Band des Zyklus nun wird der Erzählfluss gleichsam aufgestaut, und ein gutes halbes Jahrhundert Familiengeschichte kommt in den Blick.
Schauplatz des Geschehens ist das Friedberger Familiengrundstück. Hier am Ufer der Usa, so wird es von Eltern und Großeltern überliefert, hatte der Urgroßvater einen Steinmetzbetrieb gegründet. Durch Tüchtigkeit und Einheirat in die besseren Kreise vermehrte man nach und nach Besitz und Einfluss.
Schließlich ist man wer in der Kleinstadt, man hat Verbindungen, man residiert auf dem Familiensitz ein bisschen wie in einer Festung, in der man sich verschanzen kann gegen die Zumutungen der Zeit: In den 1970er Jahren zum Beispiel gegen die linken Lehrer, die die Autorität der Erziehungsberechtigten untergraben. Oder gegen die Auflagen der Denkmalschutzbehörde. Die mahnt Erhalt und Pflege einer auf dem Grundstück befindlichen alten Mühle an, die sich in keiner Nutzung mehr amortisieren lässt. Schließlich fällt die Ruine einem klammheimlichen Bagger-Einsatz zum Opfer - eine in ihrer Lakonik so komische wie beklemmende Episode.
Andreas Maier erweist sich hier wieder einmal als ein raffiniert unauffälliger Erzähler. Effektsicher setzt er seine Pointen und versteckt entscheidende Hinweise in beiläufig dahingesagten Nebensätzen. Die manieristischen Nachahmung Thomas Bernhards aus seinem ersten Roman „Wäldchestag“ (2000) hat Maier hinter sich gelassen, nicht aber Bernhards illusionslosen Blick auf Familienverwicklungen. Davon gibt es viele, in diesem Fall sind es vor allem Erbfragen und unsaubere Grundstücksgeschäfte. Die aber in feststehenden familiären Sprachregelungen konsequent beschwiegen werden. Auf seine Nachfrage, wie sich die Vorfahren seinerzeit gegenüber den Friedberger Juden verhalten haben, bekommt der Erzähler nur den einen Satz zu hören: „Aber wir haben den Juden doch sogar Brand gegeben“, also Brennholz. Die stereotype Antwort macht ihn - als Philologie-Student für Subtexte sensibilisiert - misstrauisch. Seine Befürchtungen verdichten sich zur Gewissheit, dass auch seine Familie an deutscher Schuld beteiligt ist.
Im Einzelnen sollen die Verfehlungen hier um des Lesereizes willen nicht ausgeführt werden. Entscheidend ist der Effekt auf den Erzähler. Der muss begreifen, dass er, ohne selbst verantwortlich zu sein, sich aus dem familiären Zusammenhang und seinen destruktiven Auswirkungen nicht einfach ausklinken kann. „Wir sind die Kinder der Schweigekinder,“ lautet ein Kernsatz dieser Selbsterkenntnis.
Nachdenken über Schuld
Die Wetterauer Kindheitswelt erfährt, um noch einmal auf Thomas Bernhard zurückzukommen, eine Art „Auslöschung“ - mit literarischen Konsequenzen. Ohne es zu merken, stellt der Erzähler für sich fest, habe er in seiner Familiensaga bisher die von den Vorfahren in die Welt gesetzten Legenden fortgesponnen und damit, literaturgeschichtlich betrachtet, Nachkriegsliteratur, also „Entschuldungsliteratur“ geschrieben. Das geht nun nicht mehr. Man darf gespannt sein, wie Andreas Maier nach diesen Erkenntnissen sein Erzählprojekt fortschreiben wird.
Andreas Maier: „Die Familie“. Suhrkamp Verlag, Berlin. 167 Seiten, 20 Euro.
Heimatverbundener Autor
- Eine unkonventionelle Art der Heimatverbundenheit prägen die Romane von Andreas Maier. Der 1967 in Bad Nauheim geborene Schriftsteller thematisiert das Leben in der Provinz, vor allem in der Wetterau, mit all seinen Verwerfungen und Fehlentwicklungen. Oft bezieht er sich auf das Werk Thomas Bernhards, über den er seine Dissertation schrieb.
- Nach dem Studium der Altphilologie, Germanistik und Philosophie veröffentlichte Maier 2000 sein Debüt „Wäldchentag“. Im gleichen Jahr wurde er mit dem Ernst-Willner-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb geehrt; der erste von vielen Preisen. Er gewann 2003 auch den Heidelberger Clemens-Brentano-Preis.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/kultur_artikel,-kultur-brillant-andreas-maiers-neuer-roman-familie-_arid,1482923.html