Durchatmen. Bilder, große Formate, Menschen in Räumen, alles erkennbar, erlebbar auf den ersten Blick. Nichts engt den Betrachter ein, befreites Sehen. Dies ist der erste Eindruck von Simone Lucas’ Malerei im Mannheimer Kunstverein.
Der zweite Eindruck: Oh, so einfach ist es ja nicht. Was machen sie da, die Menschen, die ein wenig wie Zitate aus der Malerei des 19. Jahrhunderts aussehen? Und wo genau stehen sie eigentlich– draußen, in Innenräumen? Beim Versuch einer Antwort findet man nur das: Kaum jemals hat man Bilder von einer solchen Komplexität, einer solchen Selbstreflexion und einem derart weiten Ausgreifen gesehen – bis hin zu 15 Parsec, das ist eine Maßeinheit für Entfernungen in der Astronomie und deutet ungefähr 49 Lichtjahre an (unsere Galaxis hat einen Radius von rund 53 Lichtjahren). Maßeinheiten für das, was wir nicht ermessen, aber uns gerade noch vorstellen können.
So thematisiert Simone Lucas nicht nur das Messen, sondern auch das Träumen, das Sehen (mit den physischen und den spirituellen Augen) sowie die Malerei, die uns das umfassende Sehen, die Wahrnehmung aller Facetten ermöglicht – zwischen der Farbenskala, den Messbändern, den Menschen, Tieren, den Innen- und den Räumen des Planetensystems mit den Bahnen von Merkur bis Saturn und darüber hinaus. Und dass ein Messen mitunter mit der Wünschelrute statt mit dem Lineal gehandhabt wird. Ist die mathematische Festlegung der Parsec-Einheit etwas grundsätzlich anderes als ein blindes Tasten mit der Wünschelrute? Und wie überhaupt sehen wir, wie vermittelt das Sehen unseren Standort im All?
Simone Lucas greift wieder in freiem Zitat zurück auf historische Ansichten: Vor einem Publikum etwa um 1900 schwebt auf grüner Wiese ein gewaltiger Ballon, bereit zum Abheben. Aber er ist ein „Fliegendes Auge“.Und anders als in der Vorstellung ist unser physisches Sehen begrenzt. Ihre Malerei, so systematisch sie auch betrieben wird mit der Skala ihrer Farben an den Bildkanten oder den Pinseltupfern auf manchen Flächen, mit denen die Bilder die Funktion der Palette zu übernehmen scheinen – Simone Lucas’ Malerei evoziert stets auch ein inneres, magisches Sehen als Teil von Wirklichkeitserfahrung.
Zu den berührendsten Ansichten gehören die zahlreichen Werke, auf denen Menschen mit Tieren eine Einheit bilden, da sitzen oder stehen sie auf einem großen dunklen Fisch, da sind sie hinein geschmiegt in Vögel, Nachtfalter oder Schmetterlinge. Eine Gruppe behüteter Herren balanciert auf dem Rücken einer Schildkröte, die am Zügel gehalten wird: „Spacetravellers“ heißt das Bild, das von der Langsamkeit menschlicher Erkenntnis kündet, während der Fußboden aus einem Sternmuster besteht und draußen Natur, atmosphärisch verschwimmende Farben, Pflanzen und der beringte Saturn auftauchen. Das Motiv der Schildkröte erinnert nicht zuletzt an den Begriff des „Turtle Island“, mit dem amerikanische Natives ihren Kontinent bezeichnen: Die Schildkröte als der Boden, aus dem wir entstanden sind. Was sind wir eigentlich im All? Vielleicht nur Wesen, die sich selber träumen.
Die Ausstellung beim Mannheimer Kunstverein wird, am 16. April, um 17 Uhr eröffnet und ist bis 4. Juni, täglich außer Montag von 12 bis 17 Uhr zu sehen.
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