Ludwigshafen. Es beginnt mit Fanfaren. Wie immer bei den Festspielen bläst und klingelt es im Pfalzbaufoyer pompös zum Einlass. Drinnen im Theatersaal hat gleich Ruth Karoline Externbrink einen großen Auftritt. Sie betritt die Bühne gemäßigten, fast theatralischen Schrittes über den Zuschauerraum, um an der Rampe ihre Posaune zu blasen. Doch das Instrument bleibt stumm. Ein stummer Schrei, stark als Auftakt und als Zeichen. Vor den Toren Trojas steht der Krieg für die Griechen ja auch nicht zum Besten. Seit zehn Jahren bestürmen sie erfolglos die Stadt, Achill, der Held, ist wie andere große Krieger gefallen, aber ein Sieg ist nicht in Sicht.
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Hilfe von außen muss her, so will es der hier von Sophokles erzählte Antikenstoff. Die Truppen des Philoktets, den Odysseus einst einer faulenden, übel stinkenden Beinwunde wegen auf der öden Insel Lemnos aussetzte, wollen abreisen, wenn ihr Führer mit seinem legendären wie unfehlbaren Herakles-Bogen nicht zurückkehrt. Die Tragödie „Philoktet“ beginnt mit der Ankunft von Odysseus und Neoptolemos, Sohn Achills, auf Lemnos, wo sie den aussätzigen Ausgesetzten wieder für den Kampf gegen Troja gewinnen wollen. Freiwillig oder gewaltsam soll er mit ihnen und das Blatt für die griechischen Belagerer wenden.
Petra Straß hat die Bühne effektvoll mit blutig-eitrigen Stoffbahnen behängt, auf denen mit Blut „NO, niemals, never, nimmer“ geschrieben steht, auch das ist ein (über)starkes Zeichen – wie manches an diesem inklusive Pause zweieinhalbstündigen Sprechtheaterabend ein wenig zu vordergründig deutlich und weniger subtil geschieht.
Nein sagen mit Sophokles
Wo und wann sagen wir „NEIN!“, wenn es Vorgesetzte, die Staatsräson oder gesellschaftliche Konformität eigentlich nicht zulassen? Weniger mit Blick auf die kriegerischen Konflikte unserer Tage, sondern mehr auf individuelle Charaktermühen hat Tilman Gersch die Inszenierung ausgerichtet, die zwei antike Stoffe zu dieser Problematik zusammenfasst, „Philoktet“ und „Antigone“.
Das Theater der Antike zu pflegen, ist im Pfalzbau Tradition und so knüpft der Intendant an seinen Vorgänger Hansgünther Heyme an, der seine zahlreichen Tragödien mit dem gut gemeinten, doch auch wunderlichen Label „Toll für junge Leute!“ bewarb. Bei Tilman Gersch stimmt das zumindest insofern, als zwölf Kinder Ludwigshafener Grundschulen bei ihren Auftritten als Chor oder später auch als Erinnyen des Sehers Teiresias sichtlich Spaß haben. Und immerhin rebelliert hier ein junger Mann namens Neoptolemos (Amina Merai) gegen den Befehl, einem Hilflosen und Kranken die Waffe zu stehlen, um damit den Interessen der griechischen Allgemeinheit zu dienen.
Nicht wenige postdramatisch geschundene Zuschauer werden die Entscheidung, auf jegliche Aktualitätsbezüge zu verzichten und stattdessen textbasiertes Drama zu zeigen, begrüßen. Zumal ensembleübergreifend gut gesprochen wird.
Doch das ist im Schauspiel eben noch nicht alles. So geht etwa Amina Merai und Luise von Stein jede Nuance individueller Charakterzeichnung dort ab, wo kunstvolle Textbewältigung zu wenig ist. Die Regie hätte hier mehr formen und gestalten müssen. Bei Meinolf Steiners Philoktet meint es der Regisseur indes zu gut. Der betrogene Held muss zu durchaus atmosphärischen Schlägen der Musiker Sophie Müller, Frank Rosenberger und Ruth Karoline Externbrink rhythmisch „Nein!“ schreien, stampfen, greinen und gestikulieren, bis nur noch ein zorniges Rumpelstilzchen übrig bleibt, das die dramatische Fallhöhe des Stoffes kleiner macht.
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Bleiben wir beim Text. Heiner Müller hat die 409 v. Chr. erstmals aufgeführte Tragödie des Sophokles bearbeitet und zum Lehrstück über das Verhältnis von Machtpolitik und Gerechtigkeit montiert. Doch Tilman Gersch und Dramaturgin Barbara Wendland bleiben bei Sophokles. Leider kann die ein wenig stumpfe, weil durch mindestens sechs Personen von hehrem Antikenklang wie von heutiger Gebrauchssprache gleichermaßen aseptisch bereinigte Übersetzung, nicht wirklich Sprachbegeisterung auslösen. „Das Stück ist ein einziger Protest gegen die Heiligung der Mittel im Namen der Macht“, schreibt Siegfried Melchinger in seiner „Geschichte des politischen Theaters“. Diese humane Geste wird uns quasi vom Blatt überbracht.
„Mit Liebe nicht mit Hassen ist mein Teil“ sagt Antigone im zweiten Teil (Amina Merai). Die aktuellsten Sätze des Dramas hat allerdings König Kreon und mit ihm Brigitte Peters als beste Darstellerin des Abends: „Und muss geliebt sein, so geh, und lieb’ die Toten!“ Gerade dies aber, die Bestattung des Bruder Polyneikes, verweigert er der Nichte und Schwiegertochter in spe bekanntlich.
Staatsräson muss bis zum Untergang gelten, denn „Regierungslosigkeit ist das Allerschlimmste.“ Der Abend ist somit dennoch ordentlich, auch wenn großes Welttheater hier, Pardon, dann doch eher kleinstädtisch über die Rampe kommt. Die finale Botschaft stimmt aber: „Das Verderblichste, was uns zuteil war, ist der Unverstand.“ Wie wenig sich doch in 2400 Jahren ändert ...
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