Mannheim. „Diebstahl“ lautet der Titel des neuen Romans von Abdulrazak Gurnah, des ersten Romans, seit der Schriftsteller aus Sansibar im Jahr 2021 den Nobelpreis für Literatur erhalten hat. Und dieses Buch bereitet eine merkwürdige Lektüre, denn obwohl es sich über die ersten immerhin 250 von rund 330 Seiten liest wie die Zusammenfassung bisheriger TV-Folgen vor Beginn einer neuen Staffel, wirkt das Thema des Romans letztlich doch deutlich nach.
Im Mittelpunkt der Handlung steht Badar, ein Junge, der als Haushaltshilfe in die Obhut der Familie Othman kommt und dort in einer Art Leibeigenschaft gehalten wird. Sein Alltag in Daressalam vermittelt eine Ahnung vom früheren muslimischen Leben an der tansanischen Küste sowie auf den Sansibar-Inseln Pemba und Unguja. Sehr, wirklich sehr detailreich schildert Gurnah, wie Badar putzt und wäscht und kocht und dabei immer wieder seine gutaussehende Herrin Raya bewundert.
„Diebstahl“ spiegelt Motive und Figuren aus Gurnahs früheren Werken
Das erinnert an Gurnahs Roman „Das verlorene Paradies“ und auch an seinen noch nicht ins Deutsche übersetzten Roman „The Last Gift“, denn auch dort verbreitet ein mürrischer Herr Othman schlechte Laune, leidet ein älterer Herr namens Abbas an diabetesbedingten Gesundheitsproblemen, kümmert sich ein großer Bruder um die Ausbildung seines jüngeren Geschwisters.
Das Motiv des Diebstahls ruft die Geschichte aus dem Buch „Donnernde Stille“ in Erinnerung, und die explizite Nennung der sansibarischen Prinzessin Salme und ihres deutschen Ehemanns Ruete wiederum ruft den Roman „Die Abtrünnigen“ in Erinnerung. Aber nicht nur auf sein eigenes Werk spielt Gurnah an, sondern er erwähnt auch Tolstoi und Jane Austen, und während die Handlung des Romans „Diebstahl“ weiterschlendert, greifen Karim, der Sohn von Badars Herrin Raya, und dessen Freundin und spätere Ehefrau Fauzia ins Geschehen ein.
Neuer Roman des Nobelpreisträgers
- Abdulrazak Gurnah , 1948 im Sultanat Sansibar geboren, ist britischer Staatsbürger. Er lebt als emeritierter Professor für englischsprachige Literaturen in Kent. 2021 erhielt er den Nobelpreis. Seine Romane „Das verlorene Parades“ und vor allem „Nachleben“ spielen vor der Kulisse der deutschen Kolonialzeit in Tansania.
- Der Penguin Verlag in München veröffentlicht nach und nach das Gesamtwerk des Autors. Gurnahs Roman „Diebstahl“ , übersetzt von Eva Bonné, hat 332 Seiten und kostet 26 Euro.
Karim erfährt so das Rätsel um Badars Herkunft – er ist der Sohn von Othmans Cousin und früherem Handelspartner, welcher Othman um ein beträchtliches Vermögen betrog. Nach dessen Verschwinden muss ausgerechnet Othman sich um den verlassenen Jungen kümmern. Karim aber verschafft Badar schließlich eine Stelle in einem Hotel auf Sansibar, lernt just dort im Hotel die hübsche Entwicklungshelferin Geraldine aus London kennen und beginnt eine Affäre mit ihr, weswegen Fauzia ihn mit ihrer gemeinsamen Tochter Nasra verlässt. Während Karim seinen Weg in die Politik erfolgreich weitergeht, werden zuletzt Fauzia und Badar mitsamt Nasra glücklich miteinander.
Die verschiedenen Formen von Diebstahl
Gurnah erzählt das flüssig wie eine Kaffeehausplauderei und lässt seine Geschichte in ein tatsächlich fesselndes Finale münden. Und damit beginnen die Überlegungen, denn was genau ist alles Diebstahl? Dass Badars Vater seinem Sohn die Kindheit und Jugend verdarb? Dass Karims Mutter Raya lange nichts von ihrem Sohn wissen wollte? Dass die Entwicklungshelferin Geraldine Fauzia den Mann und deren Tochter Nasra den Vater nimmt? Dass die Touristen auf Sansibar den Einheimischen den Wohnraum verteuern? Und überhaupt: Wie lange verknüpft eine kausale Kette seit dem ursprünglichen Diebstahl das Leben wie vieler Menschen? Was ist unmittelbare Folge und was ist Zufall?
Und so geht es einmal mehr um Vergangenheit, um eine Vergangenheit, die nicht vorüber ist, sondern sich bis in die Gegenwart in das Leben von Individuen mischt und damit beeinflusst oder gar bestimmt, in welchen Bahnen sich das eigene Handeln bewegt und womöglich noch lange vollziehen wird.
Trotz flacher Figuren entfaltet der Roman eine eindringliche Atmosphäre
Das Ganze wäre noch wirkungsvoller, hätte Gurnah die Charaktere seiner Figuren tiefer ausgelotet. So aber ist Othman nur dauerhaft schlecht gelaunt, Raya ungemein schön, Fauzia als Lehrerin nahezu genug beschrieben, Karim ehrgeizig, Fauzias Freundin Hawa in ihrer Nebenrolle lebenslustig, Geraldine atemberaubend hübsch, und Badar, der nie so recht als Akteur erkennbar wird, ist so geduldig, fürsorglich, freundlich und für Nasra ein geliebter Ersatzvater, dass es kaum zu fassen ist.
Ferner ist da noch eine postkoloniale Komponente, denn nicht nur bringt Geraldine das Leben vor Ort durcheinander, sondern Fauzia liest zudem Bücher über die spanischen Konquistadoren in Südamerika und ihr Gemetzel an den Inkas. Aber so ist das nun mal in einer seit jeher globalen Welt, dass gegenseitige Einflüsse das Leben verändern. Und wie merkwürdig: Obwohl in Gurnahs Buch derlei Gedanken nur angedeutet sind, hallt dieses Schicksalsbewusstsein als Atmosphäre des Romans „Diebstahl“ noch weit über die Lektüre hinaus nach – und zwar sehr eindringlich.
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