Mannheim. Vor 25 Jahren zerschellte in der Nacht zum 5. Dezember ein Bundeswehr-Hubschrauber an der Spitze des Mannheimer Fernmeldeturms. Der Untersuchungsbericht ist nie veröffentlicht worden. Jetzt spricht der einstige Leiter des Expertenausschusses mit dieser Zeitung über eine „unglückliche Verkettung von Ereignissen“ und den „Faktor Mensch“ als Unfallursachen. Von Waltraud Kirsch-Mayer
Rückblick: Alles sah nach einem Routineeinsatz aus, als ein im Hunsrück – Fliegerhorst Pferdsfeld – stationierter Helikopter vom Landsberger Lufttransportgeschwader 61 eine Patientin aus Pforzheim ins Heidelberger Uni-Klinikum bringen sollte. Wegen einer Hirnblutung nahm die dreiköpfige Bundeswehr-Besatzung zu ihrem Luftsanitäter noch einen zivilen Notarzt an Bord. Ein erfahrener Pilot mit mehr als 2000 Flugstunden steuerte die ihm vertraute „Bell UH 1 D“. Als der Hubschrauber im Dienste der SAR-Flugrettung um 3.28 Uhr zwischen Neckar und Mannheimer Luisenpark gegen die Spitze des knapp 205 Meter hohen Fernmeldeturms prallte, befanden sich die vier Männer bereits auf dem Rückflug.
Aus dem Schlaf gerissene Anwohner erblickten durch Fenster brennende, vom Himmel fallende Trümmer. Später kursierende Gerüchte, die Maschine sei über der Oststadt gekreist, sollten sich als Verwechslung mit jenem Rettungs-Heli erweisen, der eine halbe Stunde zeitversetzt das gegenüberliegende Klinikum angeflogen hatte.
Eingebrannte Bilder
Die Wucht der Zerstörung werde er „nie vergessen“, blickt Gerhard Widder zurück. Nicht nur bei Mannheims damaligem Oberbürgermeister haben sich Bilder wie diese eingebrannt: Der um 17 Meter verkürzte Fernmeldeturm, der amputiert wirkte. Das Riesenloch, das die herabgestürzte Rohrkonstruktion der Spitze geschlagen hatte. Schrottknäuel, unter denen sich später die verschmorte Hubschrauberkanzel fand. Und zwischen weit versprengten Trümmern lagen die vier verkohlten Leichen ohne Gliedmaße. „Wir ermitteln den Faktor Mensch, Umwelt und Technik in alle Richtungen“, erklärte Oberstleutnant Kutzbach, selbst erfahrener Hubschrauberführer. Acht Monate sollten Experten recherchieren und analysieren, ehe der interne Bundeswehr-Bericht abgeschlossen war. „Es ergaben sich keinerlei Hinweise auf technische Ursachen“ , kommentiert der heute 78-Jährige, der im aktiven Berufsleben 4655 Flugstunden absolviert hat.
Wolkenbildung immer möglich
Der pensionierte Oberstleutnant rekapituliert die Ereignisse der Unglücksnacht: Gegen 2.30 Uhr war die Notfallpatientin in Heidelberg übergeben worden. Als der Pilot für den Rückflug eine Wetterberatung einholte, gab es keine besonderen Warnhinweise, betrug die Sicht bei leichtem Regen fünf Kilometer. „Nicht vorhersehbare lokale Wolkenbildungen sind aber immer möglich“, betont Kutzbach rückblickend. Der Helikopterführer entschied sich zu einem Nachtsichtflug in einer Höhe von etwas mehr als 200 Metern. Bei der Orientierung nutzte er das „Coleman“-Funkfeuer des damaligen US-Militärflughafens in Mannheim-Sandhofen. Wenn man auf der Fliegerkarte mit einem Lineal den Heidelberger Klinikum-Landeplatz mit dem Coleman-Funkfeuer verbindet, erläutert Kutzbach 25 Jahre später, „dann führt die Kurslinie direkt über den Fernmeldeturm“.
Gegen drei Uhr, so ergaben eingeholte Wettergutachten, kam Wind auf, nahm der Regen stetig zu. Vieles deutet daraufhin, dass sich rund um die Turmspitze Wolken zusammenballten, die das – von nächtlichen Augenzeugen später bestätigte – Blinken der roten Warnlampen höchstwahrscheinlich optisch „verschluckten“. Üblicherweise sind Piloten zu einer 180-Grad-Drehung angehalten, wenn sie in Wolken geraten und die Sicht zum Boden verlieren.
Verhülltes Hindernis
Der Bundeswehr-Flugexperte geht davon aus, dass der Helikopterführer aufgrund seiner Routine davon überzeugt war, die lokale Wolkenformation schnell durchqueren zu können, und deshalb auf eine Kehrtwendung verzichtet hat.
„Mit einem darin verhüllten hohen Hindernis hat er vermutlich nicht gerechnet“, so Kutzbach. Weil der Fernmeldeturm aber sehr wohl auf der Fliegerkarte verzeichnet war, ist in dem Unfallbericht von einer „nicht ausreichend navigatorischen Vorbereitung“ als „eine beitragende Ursache“ die Rede. „Wäre der Hubschrauber einige Meter höher oder seitlich versetzt geflogen, hätten wir nie etwas von dem nächtlichen Rettungseinsatz gehört“, kommentiert Kutzbach. Er spricht vom „Faktor Mensch“ und ungern von „menschlichem Versagen“.
Eigentlich, sinniert er, sei der Mensch fürs Fliegen „nicht vorherbestimmt“ – weil er keine genetisch im Hirn verankerten Instrumente zum vorausschauenden Wahrnehmen und Umsetzen von Bewegungssituationen in der Luft besitzt. „Was für Vögel selbstverständlich ist – dafür müssen sich Flieger erst mühsam konditionieren“ und dabei sämtliche technische Hilfsmöglichkeiten nutzen. Dass diese Konstellation „zur Falle werden kann“, weiß der Experte, der bis zu seiner Pensionierung bei insgesamt 42 Bundeswehr-Luftunfällen an der Aufklärung von Ursachen beteiligt war.
Verwaiste Kinder
Das „Warum?“ treibt bis heute Angehörige um. Die im Raum Nürnberg lebende Mutter des verunglückten Piloten tut sich mit der Vorstellung schwer, ihr Sohn habe möglicherweise eine Situation falsch eingeschätzt – „er war doch so erfahren“.
Nicht nur das jähe Lebensende des damals 39-Jährigen hat sie schwer getroffen. Die Mittachtzigerin erzählt, dass die Enkelin noch klein war, als ihr Vater verunglückte, dass der Enkelsohn nie seinen Papa gesehen hat – weil er erst im Januar auf die Welt gekommen ist. „Und jetzt ist auch noch die Mutter der beiden mit gerade mal Anfang Sechzig gestorben.“
Der Todesflug, der als Rettungseinsatz begann, hat drei Frauen jeweils den Ehemann und fünf Kindern den Vater genommen. Nicht nur der Pilot, sondern auch der beim Absturz erst 26-jährige Luftsanitäter sollte nie sein „danach“ geborenes Baby im Arm halten.
Wie schmal der Grat zwischen Leben und Tod ist, offenbart das Schicksal des jungen Mediziners. Der 28-Jährige war am Tag zuvor für einen Kollegen als Bereitschaftsnotarzt eingesprungen. Die Mutter betont, dass sie sehr wohl wisse, dass den damaligen Freund, der um einen Diensttausch gebeten hatte, keine Schuld trifft: „Trotzdem wollte ich mich mit ihm aussprechen – er ist aber nie gekommen.“
Die im Juni nach dem Unglück, im Jahr 1995 übergebene Gedenkstätte hat sie nach der offiziellen Erinnerungsfeier nie mehr besucht – „aus Empörung“, wie sie sagt. Die Mutter kann nicht verstehen, dass drei Steinsäulen aufgestellt wurden. „Aber es sind doch vier Männer abgestürzt – drei von der Bundeswehr und mein Sohn!“
Heute weiß-rote Spitze
Die drei Basaltsteine habe damals die Bundeswehr zur Verfügung gestellt, blickt Stadtparkgeschäftsführer Joachim Költzsch zurück. „Wir übernahmen lediglich die gärtnerische Gestaltung.“
Das Personal des Luisenparks pflegt bis heute das Mahnmal, das am Fuß des Fernmeldeturms – auf dem Gelände der Telekom – liegt. Seit dem Unglück ragt die erneuerte Spitze des Turms rot-weiß leuchtend in den Himmel.
Info: Fotostrecke unter morgenweb.de/mannheim
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