Mannheim. Ob man die Zeitenwende-Rhetorik ernst nehmen kann oder nicht - die Zeiten haben sich geändert. Das spürt man sogar in ehernen Traditionsveranstaltungen wie Urban Priols kabarettistischem Jahresrückblick „Tilt!“ im Mannheimer Rosengarten. Das Publikum ist nach der Pandemie jetzt wieder fast vollständig zurück. Bis auf ein paar einzelne Plätze sind die Reihen im als ausverkauft gemeldeten Mozartsaal ist am Sonntagabend voll besetzt.
Der Hauptdarsteller, früher eine unbarmherzige Fließband-Guillotine für angreifbare Politiker, hat seinen Ton etwas entschärft. Was Not tut, in einer überreizten Gesellschaft, in der Hetze, Nötigung und ungenierter Antisemitismus beziehungsweise Rassismus für einige Leute erschreckenderweise ein neues Normal darstellen. Da rüstet Priol vernünftigerweise verbal ein wenig ab. Das Böseste ist vielleicht, wenn die grüne Kulturstaatsministerin Claudia Roth als „unser Betroffenheits-Flokati“ verbal ausgeklopft wird.

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Ansonsten sind die früher oft bitterbösen Apostrophierungen („das Trockengesteck aus der Uckermark“ alias Angela Merkel) meist nur in der Sache scharf. Zum Beispiel ist Olaf Scholz „unser Praktikant im Kanzleramt“. Dessen Erinnerungslücken bei den eigenen Fehlern sind einer der vielen Running Gags, zum Beispiel wenn es um den verbreiteten Wunsch nach einer Wiederauflage der Großen Koalition aus Union und SPD geht: „Die Deutschen vergessen schneller als ihr Kanzler.“ Was kurios ist, denn gleichzeitig attestiert der frühere Chef der ZDF-Anstalt hierzulande zutreffend eine seltsame Verklärung und Sehnsucht nach früher oder gestern.
Neue Lieblingsgegner wie Söder und Merz
Priol agiert nicht gerade überparteilich. Man merkt deutlich, dass er die in Berlin regierende Ampel-Regierung für ein vergleichsweise kleineres Übel hält. Und kann das trotz klar benannter handwerklicher Fehler, personeller Schwächen und der Sündenbock-für-alles-Rolle von Wirtschaftsminister Robert Habeck auch begründen. Vor allem in Relation zu „zweimal 16 Jahren Stillstandsterroristen“ unter CDU-Führung. Wie so oft dekliniert der Kabarettist ein einfaches Bild aus dem Alltag bis zum logischen Ende durch: „Wenn Grün in einer Ampel an der Kreuzung fehlt, herrscht Stillstand. Wenn die Ampel ganz ausfällt, gilt Rechts vor Links.“
Aiwanger überrepräsentiert
Generell hat der 62-Jährige aber nichts an Biss verloren und wetzt seine Zähne immer noch fast drei Stunden lang an neuen Lieblingsgegnern. Das sind allen voran Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und dessen Wirtschaftsminister und „Hubsi“ Hubert Aiwanger, CDU-Chef Friedrich Merz („die alte Adenauer-Attrappe) oder Bundesfinanzminister Christian „Lobbyisten-Lümmel“ Lindner. Priols zahlreiche Aiwanger-Imitationen („Oan Wolf? Obknolln!“, Hochdeutsch: Abknallen) bringen die Stimmung zum Brodeln. Der gute Mann ist in Außendarstellung und inhaltlich einfach ein gefundenes Fressen - aber angesichts seines tatsächlichen politischen Gewichts derzeit etwas überrepräsentiert in den gut drei Stunden. Aber es stimmt nun mal, was Priol über Bundeskanzler Scholz sagt: „Den kann man nicht parodieren, da muss man schon Pantomime können.“
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Wie sehr sich die Zeiten geändert haben, merkt man vor allem am Ende der 2023er-Ausgabe von „Tilt!“. Jahrelang - in Mannheim seit 2006 - verabschiedet sich Priol launig-versöhnlich immer gleich: Er wünschte alles Gute fürs neue Jahr, das vermutlich wieder genau so bescheuert werde wie das vergangene. Für das aktuelle Jahr kommt aber sogar das rhetorische Maschinengewehr des deutschen Kabaretts - gut gespielt - ins Stocken: „Gehen wir davon aus, dass 2024 doch wieder genau so bescheu...“ - er stockt. Dass 2024 ein bisschen weniger bescheu ... nein. Dass 2024, ähm, ... wird. Freu!“
"Erikative" als roter Faden
Letzteres ist ein sogenannter Inflektiv, den Urban Priol zu seinem vergnüglichen roten Faden seines Programms macht. Zur Blüte gebracht wurde der sogenannte „Erikativ“ von Erika Fuchs, der Übersetzerin der Disney-Comics um Donald Duck oder Micky Maus. „Kotz!“ oder „Spei!“ entfährt es Priol beispielsweise, wenn er wegen Staus und Klimaschutz Bahn zu Auftritten fährt, um trotzdem wegen Ausfällen, Streik oder drei Schneeflocken in der Luft mit einem Leihwagen im Stau zu landen.
Wenn er an Aiwanger denkt, entfährt Priol „Grübel!“, bei Ex-US-Präsident Donald Trump ist es ein „Schauder!“ Dass dieses selbst ernannte Geschenk Gottes an die USA tatsächlich wieder ins Amt gewählt werden könnte, führt zu folgendem Witz: „Was grenzt an absolute Dummheit? Mexiko und Kanada.“ Die explosive Reaktion des Publikums könnte man mit „Johl! auf den Punkt bringen. Populismus im Allgemeinen erntet das fast legendäre „Stöhn!“
Wir können doch mehr als Selbstmitleid“
Allgemein versucht Priol aber, der Zeit voller Kriege, Krisen und Katastrophen etwas Positives abzugewinnen: „Wir können doch mehr als Selbstmitleid“ - und findet dafür auch Beispiele. Etwa, dass die deutsche Firma MAN eine Wärmepumpe verkauft, die 100 000 Menschen versorgen kann. Oder dass vermehrt Leute auf die Straße gehen und protestieren zum Beispiel - wenn es keine Feinde der Demokratie sind. Am Ende rät er dazu, nicht immer nur auf „Die da oben“ zu schimpfen - das hat er selbst ja schon in 90 Prozent seiner Spielzeit getan: „Da macht man es sich zu einfach, Es sind auch die anderen, also auch wir da unten. Wir müssen auch aufpassen, dass wir nicht in Hass und Hetze verfallen (...) dass wir zeigen: Die Gesellschaft gehört zusammen. Das kann doch nicht so schwer sein.“
Natürlich sei der Mensch - frei übersetzt nach Thomas Hobbes - der Wolf des Menschen. Aber „Obknolln“ nach Hubsi Aiwanger sei doch keine Lösung: „Wir haben doch nur uns (...) wir entscheiden doch letztendlich, wie’s weitergeht.“ Erstmal mit warmem intensivem Applaus. Jubel!
"Tilt! 2024": 6.12.2024 Landau; 14.1.2025 Mannheim. Karten: eventim.de
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