Mehr als 75 Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager sind Antisemitismus und Rassismus allgegenwärtig. Ausgrenzende Mythen und Feindbilder waren wohl nie weg. Nun sind auch diejenigen, die sie verbreiten, lauter geworden. Was mich dabei besonders erschreckt, ist die große Zustimmung aus den unterschiedlichsten Richtungen, die sich auf den Straßen mittlerweile fast genauso deutlich zeigt wie in den Kommentarspalten der Sozialen Medien. Dass dabei auch immer wieder der Holocaust relativiert wird, ist unerträglich, insbesondere für die Überlebenden der NS-Verfolgung und ihre Angehörigen.
Ich habe mit einigen Protagonisten meines Projekts „Gegen das Vergessen“ über die aktuelle gesellschaftliche Situation gesprochen, und weiß, wie beunruhigt sie deshalb sind. Der Rechtspopulismus, der einerseits Stimmung macht gegen „die da oben“, und andererseits „die anderen“ ausgrenzt, die aus willkürlich definierten Gründen nicht dazugehören, funktioniert heute offensichtlich noch nach dem gleichen Muster wie vor 80 Jahren. Auch damals begann es nicht plötzlich mit Vertreibung und Völkermord. Es war ein schleichender Prozess, der die Gräben zwischen den Menschen immer tiefer grub.
Die 2019 verstorbene Germanistin und Historikerin Susan Cernyak-Spatz war die erste Frau, die ich für „Gegen das Vergessen“ porträtieren durfte. Sie gab mir ein Zitat mit auf den Weg, das für mich zu einer Art Leitsatz und Mahnung geworden ist: „Wenn wir die Vergangenheit vergessen, sind wir verdammt, sie zu wiederholen“. Das „Verhindern des Vergessens“ muss oberste Priorität haben. Und es muss mehr beinhalten als feierliche Festakte zu besonderen Anlässen und Theorien aus dem akademischen Elfenbeinturm. Es muss wieder „auf die Straße“ gebracht werden.
Ich glaube an eine Erinnerungskultur, die wie jede Form der Kultur dynamisch ist und gelebt wird; ein ständiger, aktiver Prozess, der den Alltag einbezieht, die Gegenwart und Zukunft im Blick hat und unterschiedliche Lebensrealitäten und Perspektiven der Gesellschaft berücksichtigt. Gerade für Jugendliche und junge Erwachsene wünsche ich mir deshalb neue Formate, die über den lehrplanmäßigen Unterricht hinausgehen; die die Geschichten hinter den Fakten erzählen und dadurch emotional und direkt wirken. Formate, die offen sind für Impulse und Ideen und die von allen mitgestaltet werden, um so auch für alle erlebbar zu sein. Im Rahmen unseres Bildungsprogramms haben wir hier bereits einige Möglichkeiten erarbeitet und getestet. Das Engagement der beteiligten Schüler und Schülerinnen hat uns darin bestätigt, diesen Weg weiter zu verfolgen.
Wie konnten Menschen anderen Menschen so viel Leid zufügen? Warum hat es niemand verhindert? Was können wir tun, dass solche Verbrechen nie wieder geschehen?
Woran wir gemeinsam arbeiten müssen, ist die Art und Weise, wie wir uns ihnen annähern. Dabei sollten wir uns immer wieder hinterfragen und die vielfältigen Stimmen der Gesellschaft hören.
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