Mannheim. Wo sind die nur alle hin? Der Personalmangel ist gegenwärtig unser ständiger Begleiter im Alltag. Aber das ist erst der Anfang: „Wir haben an allen Ecken und Enden in Deutschland auch einen großen Mangel an Arbeitskräften, weil immer mehr Babyboomer in Rente gehen“, so der Mannheimer Ökonom Eckard Janeba kürzlich im Interview. Das Ausscheiden der geburtenstarken Jahrgänge aus dem Berufsleben reißt ein großes Loch auf dem Arbeitsmarkt, weil zu wenige junge Kräfte nachrücken. Die Konsequenzen dieses demografischen Effekts: Bis 2035 stehen dem Jobmarkt nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) sieben Millionen Menschen weniger zur Verfügung als 2020.
Wissenschaftler beschäftigten sich deshalb mit der Frage, ob es - zumindest theoretisch - Faktoren gibt, mit denen sich der demografische Effekt eindämmen lässt. Die IAB-Forscher gehen etwa davon aus, dass die Erwerbsbeteiligung von Frauen und Älteren zunehmen wird. Bei Ausländerinnen liegt sie um 20 Prozentpunkte niedriger als bei deutschen Frauen. Höhere Erwerbsquoten wären denkbar. Auch die Rente mit 67 wird bei den Älteren zu einem Anstieg der Erwerbsquoten führen. Die Forscher erwarten außerdem einen größeren Anteil von Akademikerinnen und Akademikern. Weil diese in der Regel länger im Job bleiben, würde die Erwerbsquote weiter steigen. Die Experten rechnen deshalb in ihrer Projektion damit, dass 2035 „nur“ noch 4,5 Millionen Arbeitskräfte fehlen würden.
42-Stunden-Woche - ein umstrittener Vorschlag
Entscheidend sind aber nicht nur die Köpfe. Es geht auch darum, wie lange die Beschäftigten am Schreibtisch oder an der Werkbank bleiben. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hat bereits im Interview die Arbeitszeit ins Spiel gebracht: „Eine Möglichkeit ist, dass wir mehr arbeiten müssen. Deutschland hat in Europa die geringste Jahresarbeitszeit.“ Arbeitgeberpräsident Stefan Wolf schlug eine 42-Stunden-Woche vor - das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln sekundierte: „Wenn man das aufsummiert, dann würde man bis 2030 den demografisch bedingten Verlust an Arbeitsvolumen kompensieren“, so IW-Chef Michael Hüther. Die Gewerkschaften winken bei diesem Thema aber ab.
Die Forscherin Yvonne Lott vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung, die zum DGB gehört, erklärt, warum sie den Vorschlag für eine schlechte Idee hält: Bei einer Verlängerung der Arbeitszeit würden Arbeitnehmer mit einem Wechsel in Teilzeit reagieren. Ein Muster, das in der Pflege zu beobachten sei, und den Fachkräftemangel dort vergrößere. Lott hält es für eine bessere Strategie, die - Stichwort Vereinbarkeit - hohe Quote kurzer Teilzeitarbeit zu reduzieren. In vielen Ehen arbeite ein Partner Vollzeit und der andere viel kürzer. Etwa 80 Prozent der Vollzeitbeschäftigten würden aber lieber kürzer arbeiten und streben eine gerechtere Aufteilung an. Dann könnten beide Partner „vollzeitnah“ - und unterm Strich mehr - arbeiten als in der weit verbreiteten Kombination von Vollzeit und kurzer Teilzeit.
Arbeitgeberpräsident Wolf hat auch ein anderes heißes Eisen angepackt. Er fordert eine Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 70 Jahre. Das ist aber illusionär. Dagegen ist Ökonom Janebas Vorschlag, dass bei Frührentnern die Hinzuverdienstregeln großzügig geregelt werden sollten, inzwischen auf ein positives Echo gestoßen. In der Pandemie wurde die Grenze von 6300 auf 46 060 Euro angehoben. Diese Regelung läuft im nächsten Jahr ab. Die Regierung plant jetzt sogar, die Hinzuverdienstgrenze ganz zu streichen. Einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey zufolge kann sich allerdings nur rund ein Viertel der Deutschen vorstellen, länger als bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter zu arbeiten. Zwei Drittel wollen dies nicht. Eine allgemeine Anhebung des Renteneintrittsalters lehnt die Ampel ab.
In einem Punkt sind sich aber alle Experten einig: Die größte Stellschraube ist die Zuwanderung. Kretschmann: „Wir müssen Fachkräfte aus dem Ausland gezielt anwerben.“ Schon bei einer jährlichen Nettozuwanderung von 100 000 würde das Minus bis 2035 „nur“ noch drei Millionen Erwerbspersonen ausmachen. Bei einer Nettozuwanderung von jährlich mehr als 400 000 wäre der Saldo sogar im Plus - allerdings erst bis 2060.
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Spanier sind schon wieder weg
Die Kölner IW-Forscher halten das aber - wie ihre IAB-Kollegen aus Nürnberg - für unrealistisch. Bei einer durchschnittlichen Abwanderung von mehr als einer Million pro Jahr müssten rein rechnerisch rund 1,5 Millionen Personen einwandern. Das wäre aus heutiger Sicht eine unglaublich hohe Zahl. Das zusätzliche Problem: Bisher kamen die meisten Zuwanderer aus Osteuropa, weil aber auch dort die Geburtenrate sinken, müssten die Arbeitskräfte aus anderen Regionen kommen.
Wie schwer es für Deutschland inzwischen ist, auf Dauer Zuwanderer zu bekommen, hat die Eurokrise bewiesen. Die meisten der vielen jungen Griechen und Spanier, die hier ihr Glück suchten, sind wieder weg. IW-Ökonom Holger Schäfer umschreibt das Problem so: „Wir müssen uns von dem Gedanken verabschieden, nur noch fertig ausgebildete Fachkräfte nach Deutschland zu holen. Ob qualifiziert oder unqualifiziert: Wir können froh sein, wenn überhaupt genügend Menschen einwandern“, sagte er dem Portal „t-online“.
Man darf sich von diesem Projektionen aber auch nicht verrückt machen lassen. Niemand weiß, wie viele Arbeitskräfte Deutschland 2035 wirklich braucht. Viele Beschäftigte in der Automobil- und Zuliefererindustrie bangen schon jetzt um ihre Jobs, weil ein Elektromotor eben mit weniger Leuten zusammengebaut werden kann als ein Verbrenner. Der technische Fortschritt und die Automatisierung sind zwei Variablen, die sich nur schwer berechnen lassen.
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