Mannheim. „Das gab es noch nie“, sagt der Verbraucherschützer. „In dem Maße ist es schon einmalig“, sagt der Vergleichsportal-Experte: Die Lage bei den Energiepreisen spitzt sich weiterhin zu – für immer mehr Verbraucherinnen und Verbraucher werden vor allem Gas und Strom teurer. Ein Überblick.
Um wie viel sind die Energiepreise zuletzt gestiegen?
Kurz vor Weihnachten hat eine Kilowattstunde Strom durchschnittlich 32 Cent gekostet, sagt Matthias Bauer, Energieexperte bei der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg. Inzwischen gebe es Kunden, die 1,07 Euro zahlen müssten. „Solche Preise sind von einem Normalverbraucher nicht mehr zu leisten“, kritisiert Bauer. Das Heidelberger Vergleichsportal Verivox hatte bereits Anfang Dezember registriert, dass von deutschlandweit rund 720 Gas-anbietern 612 ihre Grundversorgungstarife erhöhen wollten – im Schnitt um mehr als 20 Prozent. Für viele Kunden fallen die Preissteigerungen jedoch noch größer aus: Weil sie früher einen günstigeren Sondertarif hatten, den es so nun oftmals nicht mehr gibt.
Was hat es mit den Sondertarifen auf sich?
Vereinfacht gesagt gibt es zwei Arten von Tarifen: die Grundversorgungs- und die Sondertarife. Erstere waren früher in der Regel deutlich teurer, können von den Unternehmen relativ kurzfristig erhöht, von den Kunden andererseits aber auch recht schnell gekündigt werden. Die Sondertarife waren bislang meist günstiger, lockten neue Kunden mit Boni und einer „Preisgarantie“. Dafür sind die Laufzeiten in der Regel deutlich länger. Doch mittlerweile gibt es immer weniger dieser Sondertarife.
Warum gibt es zurzeit so wenig Sondertarife?
Die Großhandelspreise für Gas und Strom sind mittlerweile so hoch, dass es sich für viele Versorger nicht mehr rechnet, neue Kunden zu gewinnen, wenn sie dann zusätzliche Energiemengen einkaufen müssen. Und wenn sie ihre Sondertarife so gestalten würden, dass sie kostendeckend wären, müssten sie die Preise so hoch ansetzen, dass sie für die Verbraucher nicht mehr attraktiv wären. Darum nehmen viele Unternehmen zurzeit keine neuen Kunden in ihre Sondertarife mehr auf.
Wie viele Versorger bieten noch Sondertarife an?
Genau können das auch Experten nicht sagen, weil es deutschlandweit ungefähr 700 bis 800 Versorger gibt. Einen Hinweis bietet aber der Blick auf die Vergleichsportale im Internet, selbst wenn dort nicht alle Anbieter auftauchen: Während in früheren Zeiten dort durchaus mehr als 100 Tarife aufgelistet waren, sind es inzwischen – je nach Einstellungen und Postleitzahlgebiet – vielleicht gerade einmal etwa 50.
Wie sieht es in der Rhein-Neckar-Region aus?
Eine kleine Umfrage bei einigen beispielhaft ausgewählten Versorgern zeigt: Die Pfalzwerke in Ludwigshafen bieten aktuell keine Sondertarife für neue Strom-Kunden an. Auch die südhessischen Versorger Entega und GGEW haben ihre Gas- und Strom-Angebote für Neukunden außerhalb ihres Grundversorgungsgebiets ausgesetzt. Bei EnBW und MVV gibt es dagegen keine Einschränkungen. Das Stadtwerk Tauberfranken und die Stadtwerke Heidelberg konzentrieren sich nach Angaben ihrer Sprecher ohnehin nur auf die Belieferung der regionalen Kunden in ihrem jeweiligen Grundversorgungsgebiet.
Was ist eigentlich ein Grundversorger?
Der Energieanbieter, der im jeweiligen Tarifgebiet die meisten Kunden hat, ist dort für die sogenannte Grundversorgung zuständig: Für diese gelten spezielle gesetzliche Regelungen, damit die Versorgung der Menschen gewährleistet ist. Im Gegensatz dazu herrscht bei den Sondertarifen Vertragsfreiheit.
Welche Folgen hat das teilweise Aussetzen der Sondertarife?
Früher haben Energieexperten regelmäßig zum Wechseln geraten, also dazu, aus der Grundversorgung in einen Sondertarif zu gehen. Bis zu 240 Euro pro Jahr konnte man damit beispielsweise beim Gas sparen, rechnete die Bundesnetzagentur noch 2020 vor. Doch mittlerweile sind selbst die meisten noch verbliebenen Sondertarife so teuer, dass Verbraucherschützer Bauer sagt: „Zurzeit lohnt sich ein Wechsel oftmals nicht.“
Wie sollen die Verbraucherinnen und Verbraucher dann reagieren?
Trotzdem die eigenen Konditionen mit den Angeboten vergleichen, rät Bauer. Und zwar nicht nur über die Internetportale, sondern auch durch Nachfragen bei den Versorgern in der Region. Wer einen einigermaßen günstigen Tarif hat, dem empfiehlt er: „Bitte drinbleiben.“ Wer deutlich zu viel bezahlt, solle wechseln, aber dabei bedenken: „Verträge bitte nicht länger als für ein Jahr abschließen.“ Denn wenn sich die Lage künftig etwas entspanne, könne man dann wieder auf ein lukrativeres Angebot hoffen.
Was mache ich, wenn mein Versorger mir gekündigt hat?
Hier gibt es häufig ein neues Problem. Zwar wird niemandem der Strom oder das Gas abgestellt: Denn wem sein Versorger, oftmals sind das die sogenannten „Discountanbieter“, gekündigt hat, der fällt in die Ersatzversorgung. Das heißt, er wird automatisch vom jeweiligen Grundversorger beliefert. Doch da das zuletzt sehr häufig geschehen ist – laut Bundesnetzagentur hatten bis Ende des vergangenen Jahres mindestens 38 Anbieter angekündigt, die Stromlieferung beenden zu wollen – haben viele Unternehmen, darunter auch die MVV, reagiert: indem sie nun zwei Grundtarife anbieten – einen günstigeren für die Bestandskunden und einen teureren für die neu hinzugekommenen.
Ist diese Praxis denn in Ordnung?
Hier gehen die Meinungen auseinander. Viele Verbraucherschützer finden: nein. In Nordrhein-Westfalen hat die Verbraucherzentrale deshalb vergangene Woche auch schon drei Unternehmen abgemahnt. In Baden-Württemberg ist das ebenfalls geplant, kündigt Matthias Bauer an: „Das muss gerichtlich geklärt werden.“
Und wie sehen das die Energieversorger?
Naturgemäß anders: Sie argumentieren, dass sie aufgrund der neuen Kunden zusätzliche Strom- und Gasmengen kaufen müssen – zu sehr hohen Preisen. Würden sie diese nicht vornehmlich auf die hinzugekommenen, sondern auf alle Kunden umlegen, würden sie ihre treuen bestrafen.
Wie schätzt das Kartellamt die Lage ein?
Präsident Andreas Mundt sagte, dass er die Praxis der Tarifspreizung kritisch sehe, „auch wenn ein gewisser Preisunterschied angesichts der derzeitigen Verwerfungen am Markt und der sehr hohen Beschaffungskosten gerechtfertigt sein könnte“. Es gehe dabei vor allem um das richtige Maß. Die Versorger sollten sich bewusst sein, „dass sie die Höhe der jetzt aufgerufenen Tarife für Neukunden im Einzelnen auch rechtfertigen können müssen“. (mit dpa)
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Markt allein regelt die steigenden Energiepreise nicht