Berlin. Ist die Apotheke um die Ecke ein Auslaufmodell? Nein, sagt ausgerechnet Walter Hess, Chef von Europas größter Online-Apotheke Doc Morris. Im Interview erklärt er, warum es dennoch weniger Hürden für Internetarzneimittelanbieter braucht, Doc Morris an den umstrittenen Rezept-Boni festhalten will und wie es mehr Wettbewerb zwischen den Apotheken geben könnte.
Herr Hess, immer mehr Menschen bestellen Medikamente im Internet, die Zahl der stationären Apotheken sinkt. Sind Versandapotheken wie Doc Morris schuld am Apothekensterben in Deutschland?
Walter Hess: Die Fakten sagen etwas anderes. Seit 2010 geht die Zahl der Apotheken in Deutschland zurück, gleichzeitig aber sind die Medikamentenumsätze von 31 auf 58 Milliarden Euro hochgegangen. Der Anteil der EU-ausländischen Online-Apotheken daran lag und liegt ungefähr bei einem Prozent. Von daher ist der Rückgang der Apotheken in Deutschland wirklich ein Thema der Apotheken selbst – und sicher nicht eines der Online-Apotheken.
Halten Sie stationäre Apotheken noch für notwendig, um eine stabile Gesundheitsversorgung in Deutschland zu gewährleisten?
Hess: Ja. Es braucht Vor-Ort-Versorgung und zusätzlich Online-Versorgung.
Die Internetapotheken machen keine Notdienste, kritisiert die Spitzenorganisation der Apotheker. Berechtigt?
Hess: Nein. Wir sind telefonisch und über digitale Kanäle 24 Stunden am Tag erreichbar. Gesetzlich ist es uns untersagt, in Deutschland vor Ort Notdienste anzubieten.
Würden Sie denn gerne?
Hess: Wir würden gerne, natürlich. Aber dafür müsste es gesetzlich zugelassen werden. Den Vor-Ort-Apotheken ist unser Ausschluss mehr als recht, weil man uns als Anbieter so raushalten kann. Dabei können wir eine gute Ergänzung sein und zum Beispiel dort helfen, wo die Apothekendichte nicht sonderlich hoch ist – wie etwa im ländlichen Raum, wo uns die Menschen schon heute überdurchschnittlich häufig nutzen.
Schweizer an der Spitze
- Doc Morris ist Europas größte Online-Apotheke mit Sitz in der Schweiz.
- An der Spitze des Konzerns steht der Schweizer Walter Hess (59), der seit gut 13 Jahren für das Unternehmen tätig ist, und Ende 2023 auch die Verantwortung für das Deutschland-Geschäft übernahm.
- Die Versandapotheke hat eigenen Angaben zufolge mehr als zehn Millionen Kunden .
- Deutschland ist der größte Markt und wird vor allem aus einem Logistikzentrum in den Niederlanden beliefert . ba
Können Online-Apotheken auch die Beratungsleistung eines Apothekers vor Ort ersetzen?
Hess: Ja, absolut. Mehr als 100 Apotheker und pharmazeutisch-technische Assistenten arbeiten bei uns und stellen die pharmazeutische Qualität sicher.
Stiftung Warentest hat vor einiger Zeit aber die Beratungsqualität von Doc Morris bemängelt. Online-Anbieter seien „keine große Hilfe“.
Hess: Das sind Einzelbewertungen. Fragt man morgen neu, fällt die Antwort anders aus. Doc Morris war übrigens Testsieger mit dem Gesamturteil „gut“.
Anders als die Apotheke um die Ecke, für die die Medikamentenpreisbindung gilt, bietet Doc Morris Rabatte auf rezeptpflichtige Arzneien an. Kann die Versandapotheke nur wegen eines günstigeren Preises überzeugen?
Hess: Innovative und effiziente Apotheken wie Doc Morris erzielen Effizienzgewinne, die wir in Teilen gerne ins System zurückgeben würden, zum Beispiel an die Krankenkassen. Die gesetzliche Lage erlaubt das nicht. Krankenkassen dürfen mit uns solche Verträge nicht abschließen. Also versuchen wir, über direkte Boni die Gesundheitskosten des Patienten zu reduzieren.
Aber es ist doch ein unfairer Wettbewerbsvorteil, dass Doc Morris Rabatte anbieten darf und Vor-Ort-Apotheken nicht.
Hess: Nein. Ganz im Gegenteil. Es ist nicht fair, dass wir keine Vor-Ort-Apotheken mit direktem Zugang zum Patienten betreiben dürfen. Das schließt das Fremd- und Mehrbesitzverbot im Apothekenrecht aus. Und Doc Morris ist eben eine Kapitalgesellschaft mit vielen Eigentümern. Um dieses Ungleichgewicht auszugleichen, soll der Rezept-Bonus eingesetzt werden können. Das sieht ja auch der Europäische Gerichtshof so. Und es wurde gerade durch den BGH erneut bestätigt.
Sollte sich mit Blick auf die Medikamentenpreisbindung in Deutschland etwas ändern?
Hess: Will man für mehr Wettbewerb sorgen, wäre das wünschenswert. Möglich wäre zum Beispiel, von dem derzeitigen Fixpreissystem zu einem Höchstpreissystem zu wechseln. Apotheken dürften dann nicht mehr für eine Arznei verlangen, aber jede Apotheke dürfte dann selbst entscheiden, ob sie begrenzte Boni an die Patienten gewährt
Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) hat angekündigt, alles dafür zu tun, „gleiche Bedingungen zwischen Versandhandel und stationären Apotheken zu erhalten“. Heißt: Sie will Rabatte verbieten. Was entgegnen Sie?
Hess: Insgesamt gleiche Bedingungen würden wir sehr begrüßen. Bezogen auf den Rezept-Bonus kann ich einfach sagen: Wenn das höchste europäische und das höchste deutsche Gericht den Rabatt anerkennen, wird sich das Ministerium das sicherlich genau anschauen müssen.
Angesichts der Stimmung befürchten Sie aber nicht, dass Frau Warken Ihnen grundsätzlich Ihr Geschäft verbieten will?
Hess: Frau Warken ist Juristin. Von daher gehe ich davon aus, dass sie sich nicht durch Polemik treiben lässt, sondern faktenbasiert die Themen analysiert. Und dann darf ein Verbot von Online-Apotheken kein Thema sein.
Seit Januar 2024 ist in Deutschland das E-Rezept flächendeckend verfügbar. Wie haben sich seitdem Ihre Kunden- und Bestellzahlen entwickelt?
Hess: Positiv. Das E-Rezept ist einfach sehr bequem. Man kann von zu Hause oder noch von der Arztpraxis aus die verordneten Medikamente bestellen. Aber es ist auch nicht so, dass nun plötzlich alle Patienten diese Option nutzen würden.
Apotheker kritisieren das E-Rezept-System mit der Aussage „unzuverlässiger als die Deutsche Bahn“. Hat das CardLink-Verfahren alle Probleme beseitigt?
Hess: Zunächst mal ist das ein unzutreffender Vergleich. Über den E-Rezept-Fachdienst der Gematik laufen täglich Millionen von Rezepten. Dass dabei mal irgendetwas langsam ist, ist völlig normal. Aber es ist alles immer in kurzer Zeit beseitigt worden. Auf unser Geschäft hatten technische Probleme keinerlei Einfluss. Dank der nachträglichen CardLink-Umsetzung können Online-Apotheken ihren Kunden mittels eGK und App jetzt eine volldigitale Lösung für die E-Rezept-Einlösung anbieten.
Was muss sich beim E-Rezept verbessern?
Hess: Wir brauchen eine digitale Gesundheitsidentität. Wenn man sich nicht mehr mit Karte ausweisen müsste, würden sowohl stationäre als auch Online-Apotheken profitieren.
Deutschland spricht über die Schieflage bei der gesetzlichen Krankenversicherung. Wo sehen Sie die größten Stellschrauben, um das System wieder tragfähig aufzustellen?
Hess: Es gibt viele Ineffizienzen im ganzen System. Die Sektoren sind nicht miteinander verknüpft. Hier müssen wir schneller digitalisieren. Digital vor ambulant vor stationär sollte unser Anspruch sein. Durch eine bessere Digitalisierung sparen wir Bürokratie und so Kosten ein und entlasten das System. Außerdem hilft uns die Digitalisierung, um gegen den Fachkräftemangel bei Ärzten und Pharmazeuten zu wirken.
Sind die Medikamentenpreise in Deutschland zu hoch?
Hess: Im internationalen Vergleich steht Deutschland bei den Medikamentenpreisen sehr gut da. Teuer sind vor allem neue, hochwirksame Medikamente. Hier muss man Wege finden, diese bezahlbar anzubieten, ohne einen Standortnachteil für Deutschland zu schaffen.
US-Präsident Donald Trump hat angekündigt, in seinem Land die Medikamentenpreise senken zu wollen. Welche Folgen hätte ein solcher Schritt für Deutschland und Europa?
Hess: Die USA haben die höchsten Medikamentenpreise auf der Welt, die für große Bevölkerungsschichten nicht bezahlbar sind. Die USA müssen also etwas tun für den bezahlbaren Zugang zu Arzneimitteln. Für Europa hätte es indirekte Folgen, etwa wenn Pharmafirmen stärker in den USA produzieren. Auf die Medikamentenpreise wird es hierzulande keine großen Einflüsse haben.
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