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Der Marktführer von nebenan: Was Gehr in Mannheim so besonders macht

Wer glaubt, noch nie mit Produkten von Gehr in Berührung gekommen zu sein, täuscht sich. Ein Besuch beim Hersteller von Spezialkunststoffen.

Von 
Alexander Jungert
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Helmut Gehr, 76. Im Management steht er für die dritte, Tochter Annette Gehr für die vierte Generation. © Christoph Blüthner

Mannheim. Helmut Gehr erinnert sich oft an seinen Vater, der ihm geraten hat: Für ein Unternehmen brauchst du mindestens drei Füße. Oder noch mehr, dann kann dir nichts passieren.

Tatsächlich ist der Mannheimer Familienbetrieb heute breit aufgestellt. Gehr gehört nach eigenen Angaben seit mehr als 90 Jahren zu den führenden Herstellern thermoplastischer Kunststoff-Halbzeuge. Vereinfacht gesagt sind das Werkstücke und Rohmaterialien, die von anderen Firmen weiterverarbeitet werden.

Bei Gehr arbeiten rund 250 Menschen

Im Management steht Helmut Gehr für die dritte, Tochter Annette Gehr für die vierte Generation. Am Hauptsitz und in den Niederlassungen weltweit produzieren und vertreiben mehr als 250 Beschäftigte ein Sortiment an Stäben, Platten, Rohren und Profilen. Ein Hidden Champion von hier, den jüngst der Club der kurpfälzischen Wirtschaftsjournalisten besucht hat. Das Firmengelände befindet sich im Süden der Stadt, nah am Grosskraftwerk Mannheim (GKM).

In der Mannheimer Produktion von Gehr werden die Stifthülsen für Schwan-Stabilo hergestellt. © Christoph Blüthner

Wer mit Helmut Gehr spricht, merkt schnell: Er lebt das Geschäft und ist stolz darauf. Ein Unternehmer durch und durch. Auf die Feier zum 90-jährigen Bestehen der Firma ist 2022 sogar der frühere EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker gekommen. Fotos auf der Internetseite zeugen von weiteren prominenten Begegnungen auf internen Symposien: Gehr mit dem früheren Bundeskanzler Helmut Kohl, Gehr mit dem ehemaligen Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher, Gehr mit Ex-Bundesfinanzminister Peer Steinbrück.

Traditionsbetrieb

Alles beginnt im Jahr 1932: Eduard Gehr gründet die Firma Eduard Gehr Celluloidwarenfabrikation in Mannheim (Schwetzinger Vorstadt). Zu den Produkten gehören Türschoner, Teigschabern und Wasserstrahlregler aus Celluloid.

1956 zieht das Unternehmen an den jetzigen Standort nach Mannheim-Casterfeld um.

1974, nach dem frühen Tod seines Vaters Werner Gehr, kommt Helmut Gehr mit gerade einmal 24 Jahren in die Geschäftsführung.

2022 wird der 90. Geburtstag der Firma gefeiert. Heute arbeiten weltweit rund 250 Menschen für Gehr. Zu Umsatz und Gewinn werden keine Angaben gemacht.

Fragen nach Umsatz und Gewinn lächelt Gehr charmant weg. Den Ratschlag seines Vaters, auf mehrere Standbeine zu setzen, beherzigt Gehr jedenfalls. Kunden kommen aus den verschiedensten Branchen. Einige Beispiele:

  • Konsumgüter: Einen Stift von Schwan-Stabilo hat bestimmt schon jeder einmal in der Hand gehabt. Die Hülle dafür kommt aus Mannheim. Hunderte Millionen Stück stellt Gehr pro Jahr her. Die Zusammenarbeit besteht seit 1967. Spezialkunststoffe von Gehr stecken darüber hinaus auch in Kosmetik (Kajalstifte) oder im Innenraum von Zügen.
  • Medizintechnik: Halbzeuge von Gehr werden an Hersteller von Implantaten geliefert. Die Herausforderung: die Biokompatibilität. Entsprechendes Material, das in direktem oder indirektem Kontakt mit lebendem Gewebe steht, darf also keine unerwünschten Reaktionen wie Entzündungen oder Vergiftungen hervorrufen. Gehr ist in dieser Sparte hochspezialisiert.
  • Luftverkehr, Wehrtechnik: Das Unternehmen erschließt vor allem in der Wehrtechnik neue Marktpotenziale. Stichwort: Zeitenwende. Staaten investieren immer mehr in Verteidigung. Werkstoffe von Gehr kommen unter anderem in „mechanischen Baugruppen und funktionalen Systemkomponenten zum Einsatz“. Detaillierter will Gehr nicht werden.

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Neben Mannheim produziert Gehr im Großraum Philadelphia (US-Bundesstaat Pennsylvania) und unterhält zudem mehrere Verkaufsbüros auf der ganzen Welt. Ein Werk könnte mittelfristig hinzukommen: Gehr erwägt, die Produktion in Richtung Asien auszuweiten.

Von den USA aus werden die amerikanischen Märkte beliefert (deshalb muss sich Gehr nicht direkt mit dem leidigen Thema Zölle befassen), von Mannheim aus der Rest der Welt. Der Exportanteil von Gehr liegt über 50 Prozent, das Unternehmen verkauft also mehr im Ausland als auf dem heimischen Markt.

Das Lager von Gehr. Fotos aus der Produktion sind in der Regel nicht gestattet - aus Wettbewerbsgründen. © Christoph Blüthner

Vertriebs- und Marketing-Leiter Giorgio Müller stellt fest, dass viele Kunden schon lange keinen Lagerbestand mehr aufbauen, sondern lieber öfter kleinere Chargen bestellen. Die wirtschaftliche Lage, daraus macht Gehr keinen Hehl, könnte besser sein. „Die Krise ist da. Aber auch das werden wir schaffen“, sagt der Senior-Chef.

Gehr wirbt gerne mit seiner CO₂-neutralen Produktion. Im April 2024 hatte der Spezialkunststoff-Hersteller die Photovoltaikanlage eingeweiht, laut eigenen Angaben nach der Anlage des Landmaschinenherstellers John Deere die zweitgrößte Mannheims. Gehr will davon profitieren, dass Kunden verstärkt mit nachhaltig ausgerichteten Lieferanten arbeiten wollen.

Luftansicht: Das Gelände des Kunststoffspezialisten Gehr in Mannheim. © Gehr

Schon länger ist das Familienunternehmen an einem außergewöhnlichen Projekt beteiligt: dem „Hyperloop“. Damit sollen Passagiere in ferner Zukunft mit mehr als 800 Kilometern pro Stunde durch weitgehend luftleere Röhren von A nach B reisen. Von Frankfurt nach München etwa würde die Fahrt 26 Minuten dauern – statt der durchschnittlichen 3,5 Stunden mit dem Zug. Die Idee geht auf den umstrittenen Unternehmer Elon Musk zurück, den Mitgründer des Elektroautoherstellers Tesla.

Hyperloop soll bei München auf längerer Strecke getestet werden

Auf dem Campus der Technischen Universität (TU) München in Ottobrunn/Taufkirchen ist 2023 eine Teststrecke in Form einer 24 Meter langen Röhre eröffnet worden. Spezielle Platten in der Hyperloop-Röhre stammen von Gehr. Sie liegen im Boden der Trasse, auf der die Pods fahren. In den Platten von Gehr liegen die Spulen des Magnets. Gerade erst hat Vertriebsleiter Müller mit den Hyperloop-Forschern der TU telefoniert. Eine längere Strecke ist in Planung. „Mal sehen, ob wir da auch mitmachen.“

Die Eröffnung der Hyperloop-Teststrecke im Juli 2023 bei München. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) gibt im Vordergrund Interviews. © Alexander Jungert

Helmut Gehr reist für sein Leben gerne. Mindestens genauso gerne ist er nach wie vor in der Firma, studiert die Zahlen, begutachtet die Produktion, plaudert mit Beschäftigten. Vielleicht tritt er nächstes Jahr kürzer. Für Gehr heißt das: ein Tag weniger pro Woche. Dass sich ein so umtriebiger Mensch jemals komplett zur Ruhe setzen könnte – schwer vorstellbar. „Ich würde gerne 150 Jahre alt werden“, scherzt Gehr mit einem warmen Lächeln. Man glaubt es ihm sofort.

Redaktion berichtet aus der regionalen Wirtschaft

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