Linguistik - Der Medienwissenschaftler Jochen Hörisch über den Wandel von Konventionen

„Bleib gesund!“ – neue Grußformel in der Krise

Von 
Jessica Blödorn
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Der Wunsch, gesund zu bleiben, ist momentan ein beliebter Zusatz beim Schriftwechsel. © Jessica Blödorn

Mannheim. Dieser Tage kommt es nicht selten vor, dass eine persönliche Nachricht oder eine geschäftliche e-Mail mit den Worten „Bleib gesund“ oder „Bleiben Sie gesund“ endet. Ein Ausdruck, der sich im Zuge der Corona-Krise sehr schnell als völlig normal etabliert hat und mittlerweile auch als Routineformel durchgeht. Routineformeln sind Ausdrücke, die aus einem oder mehreren Wörtern bestehen können und im Alltag häufig Gebrauch finden. Oft haben sie eine pragmatische Gebundenheit, die sie auszeichnen.

Dazu gehören etwa die Ausdrücke „Guten Appetit!“, mit denen das Essen gestartet wird, oder die Grußformel „Guten Tag“. Sie haben jedoch auch eine andere Funktion: Sie sagen etwas über die Beziehung der Kommunikationspartner aus. „,Sehr geehrte Frau...’ werde ich nie in einem Liebesbrief schreiben, aber mittlerweile kommt ,Liebe Frau...’ durchaus auch in geschäftlichen Mails vor“, nennt der Mannheimer Professor Jochen Hörisch als Beispiel für die konventionelle Verwendung von Grußformeln.

Befehlsform als Betonung

Hörisch ist Literatur- und Medienwissenschaftler an der Universität Mannheim. „Durch eine entsprechende Grußformel wird der Status geklärt – besonders zwischen unterschiedlichen Hierarchien“, sagt er. Gesund zu sein, ist in diesen Zeiten nicht mehr selbstverständlich. Deshalb wird der neuartige Gruß „Bleib gesund!“ im Imperativ, also der Befehlsform, gebildet. Ebenso wie alle anderen Vorkehrungen, die mit dem Coronavirus in Verbindung stehen: „Gehen Sie nicht raus! Bleiben Sie Zuhause! Halten Sie Abstand!“ Unter normalen Umständen fällt das Ausrufezeichen im heutigen Alltag immer häufiger weg.

„Früher lernte man in der Schule, dass zum Imperativ das Ausrufezeichen dazugehört“, sagt Hörisch. „Es war kein konstatierender, sondern ein appellativer Ausdruck. Deshalb finde ich es erstaunlich, dass bei der Gesund-Formulierung das Ausrufezeichen wieder auftaucht.“ Außerdem sei eine klare Tendenz zur Verkürzung zu beobachten. So werde aus „mit freundlichen Grüßen“ heute ein „Freundliche Grüße“. Wie auch hier ist gerade in der jetzigen Situation ein klarer Wandel zum Informellen zu beobachten.

Dennoch seien Routineformeln kulturell gebunden und gesellschaftlich konventionalisiert. Gleichzeitig entstehe allerdings die Gegentendenz mit der Gesundheit. Das verdeutliche, dass zumindest Grußformeln kein starres Konzept seien. „Es ist bemerkenswert, dass sich Routineformeln den Umständen anpassen“, sagt der Germanist. Der Ellenbogengruß, der seit dem Aufkommen des Coronavirus verbreitet ist, habe nun ein schriftliches Äquivalent bekommen.

Durch den Gesund-Gruß entsteht der Eindruck, der Autor empfinde lediglich Sympathie für den Empfänger. Es müsse jedoch auch zwischen den Zeilen gelesen werden: „Dabei wünscht er die Gesundheit reziprok, das bedeutet wechselseitig.“ Zu übersetzen wäre das in etwa mit der Mahnung: Bleib Du bloß gesund, damit Du niemanden ansteckst und dadurch die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass ich mich anstecken könnte. „Deshalb findet man diese Formulierung derzeit sehr häufig“, sagt Hörisch.

Alle im selben Boot

„Wenn diese Situation mit dem Coronavirus vorbei ist, dann wird die Formulierung wieder verschwinden, weil sie dann unsinnig erscheint.“ „Und weil diese ungewöhnliche Zeit auch Ungewöhnliches zulässt, nimmt man es einem Politiker auch nicht übel, wenn er das Volk plötzlich duzt, indem er sagt ,Bleibt gesund und bleibt Zuhause, ihr tragt alle diese wichtige Verantwortung’.“ Die Anrede in der Du-Form stellt Vertrauen in der Krisenzeit her. „Sonst ist Distanz gefragt, aber hier wünscht man sich ein geistiges Zusammenrücken, einen Gedanken, den man gemeinsam hat“, so Hörisch – nach dem Motto: Wir sitzen alle im selben Boot.

Mehr als 35 Jahre an der Uni

  • Jochen Hörisch wurde am 3. August 1951 in Bad Oldesloe geboren. An den Universitäten Düsseldorf, Paris und Heidelberg studierte er Germanistik, Philosophie und Geschichte.
  • Seit 1983 war er an der Uni Mannheim als Professor für Neuere deutsche Literatur und qualitative Medienanalyse tätig.
  • Am 9. Mai 2018 hielt er nach mehr als 35 Jahren Tätigkeit an der Uni Mannheim seine Abschiedsvorlesung

Redaktion

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