Viernheim. „Wieso reicht die Unterschrift eines demokratisch gewählten Bürgermeisters nicht mehr, wieso brauchen wir unendliche Abrechnungsformalitäten in dreifacher Ausfertigung mit zehnmaliger Nachfrage?“ Viernheims Bürgermeister Matthias Baaß (SPD) hadert beim Neujahrsempfang im Bürgerhaus mit der ausufernden Bürokratie und dem geringen Zutrauen von Bund und Land an die handelnden Verantwortlichen.
Die Stadt Viernheim stellt den Abend zum Beginn des neuen Jahres daher unter das Motto „Mehr Vertrauen in die Menschen vor Ort!“ - und macht klar, dass den Kommunen mehr Handlungsspielraum eingeräumt werden muss.
„Es sind die Menschen vor Ort, die Probleme unmittelbar kennen und Lösungen schnell umsetzen können, wenn man sie denn lässt. Sie verstehen, was gebraucht wird und wissen, wie es erreicht werden kann“, begründet Stadtverordnetenvorsteher Norbert Schübeler (CDU) bei seiner Begrüßung. Menschen würden sich engagieren, wenn sie merken, dass ihr Einsatz Wirkung habe. Wenn sie gestalten könnten statt in unzähligen Vorschriften gefesselt zu sein, würde dadurch auch die Demokratie gestärkt. Die sieht der Bürgermeister aktuell gefährdet: „Elon Musk und Mark Zuckerberg haben sich unter dem Deckmantel der Modernität und des Fortschritts bei uns allen eingeschlichen und sind tief verankert“, greift Baaß die Betreiber von Social-Media-Kanälen wie X, Facebook und Instagram direkt an.
„Wenn jetzt nicht der Zeitpunkt gekommen ist, an dem alle demokratischen Kräfte in Deutschland und Europa dem hart entgegenhalten, dann weiß ich nicht, wann sonst“, gibt er den Viernheimern mit, für die Demokratie einzustehen. Und dazu gehöre es eben auch, den Verantwortlichen mehr zuzutrauen und überbordende Bürokratie abzubauen.
Anerkennung von Ausbildungen ein aufwendiger Prozess
Für eigenverantwortliches Handeln in der Kommune liefert die Stadt Viernheim gleich mehrere Beispiele. Bürgermeister Matthias Baaß und die Gleichstellungsbeauftragte Maria Lauxen-Ulbrich stellen die Initiative „Fachkräfte für Viernheimer Kitas vor“. Gemeinsam hat man Ideen entwickelt, wie man Fachkräfte für die Kindertagesstätten gewinnen kann - ein Werbespot, der im Kino gezeigt wird, ist nur eine der Maßnahmen.
„Mit rund 60 Personen sind wir aktuell in Kontakt, die wir als Personal in die Einrichtungen bekommen haben und bekommen wollen“, berichtet Maria Lauxen-Ulbrich von den Bemühungen und den Hürden, die sich bei der Vermittlung auftun. „Ich spreche mehrere Sprachen, aber in Schulen werde ich nur zum Putzen geschickt“, sagt Saloua Raggoud, die mit abgeschlossenem Studium von Marokko nach Deutschland kam.
Auch das Erzieher-Diplom von Inna Zirkevych ist noch nicht anerkannt. „Ich besuche jetzt einen berufsbezogenen Sprachkurs für das notwendige B2-Niveau“, sagt die Ukrainerin. „Das Anerkennungsverfahren für ausländische Abschlüsse muss vereinfacht werden“, appelliert Lauxen-Ulbrich an die Verantwortlichen, „im Moment gibt es für jeden Beruf eine andere Anlaufstelle.“
Sascha Niebler hat das Projekt „International Olympic Towntwinning Youth Camp“ betreut. „Anderthalb Jahre Vorbereitung für sechs Tage“, fasst der stellvertretende Amtsleiter des Kultur- und Sportamts aus Organisationssicht zusammen. Jugendliche aus den Partnerstädten kamen im Rahmen der Olympischen Spiele in Franconville zusammen und erlebten das Großereignis in Paris hautnah mit. „Einmalig und unvergesslich“, bei ihrem Fazit waren sich die Teilnehmer Romy Michael, Fanny Rhein, Joelle Friedel und Jannis Schmidt einig.
Betreuer Fabian Köhler geht noch weiter: „Diese Erfahrung und diese Begegnungen der Städtepartnerschaft haben sicherlich Auswirkungen auf mein ganzes Leben.“ Für Sascha Niebler gab es in Franconville noch eine spezielle Erkenntnis: „In den Partnerstädten ist die Hierarchie längst nicht so flach wie bei uns, wo wir auch allein - ohne Rücksprache mit Bürgermeister oder Verwaltung oder Politik - etwas entscheiden dürfen“, ist der Viernheimer dankbar für die Möglichkeiten in seiner Heimatstadt.
„Ein Jahrhundertprojekt - und am Ende bleibt nur ein Gully Deckel zu sehen“, fasst Erster Stadtrat Jörg Scheidel (CDU) den Bau des Entlastungssammlers zusammen. Ein Videoclip aus dem Jahr 2007 erinnert an den Starkregen und die überschwemmten Straßen und vollgelaufenen Keller - das war der Ausgangspunkt für die Ertüchtigung des Abwassersystems.
Das Jahrhundertbauwerk Entlastungssammler
Im Videofilm nimmt der Dezernent die Zuschauer mit in die Viernheimer Unterwelt und zeigt die meterhohe Röhre und das Auffangbecken. An die Bürger richtet Scheidel seinen großen Dank, dass sie über Monate und Jahre die Einschränkungen durch Baustellen und Umleitungen ausgehalten hätten.
Der Neujahrsempfang der Stadt wird vom Musikertreff Viernheim (MTV) musikalisch begleitet. Moderator Harald Hofmann kann die Band „Count to ten“ mit Manon Schneider, Florian Kaether und Michael Mrozek ebenso ankündigen wie „Die Nachbarn“ in der Besetzung Kai Schneider, Dominik Gläßer und Christopher Erben. Als weiterer Musikact umrahmt das „Cuarteto Mundial“ mit Michael Kolotuchin, Holger Best, Helge Splettstösser und Ulrich Meyer den Empfang im Foyer, bei dem die Viernheimer mit Sekt auf das Jahr 2025 anstoßen.
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