Viernheim. Allein das berühmte Klarinetten-Glissando zu Beginn der „Rhapsody in Blue“ gäbe viel Stoff für musikwissenschaftliche Analysen ab: Ein tiefer Ton windet sich effektvoll über zweieinhalb Oktaven hinauf und öffnet eine klangvolle Tür zu musikalischen Welten im Spannungsfeld zwischen Jazz, Klezmer und konzertanter Sinfonik, die alle ethnischen und musikalischen Barrieren auflöst. Der signalhafte Aufstieg in der Klarinette fesselt jeden auf Anhieb.
Nicht nur Woody-Allen-Freunde sehen dabei einen Kameraschwenk über ein herbstliches Manhattan in Schwarz-Weiß vor ihrem geistigen Auge. Diese Musik erzeugt Bilder und Emotionen, mit ihrem signifikant urbanen Stil hat sie der Identität der Amerikaner einen Ton gegeben.
Im Viernheimer Bürgerhaus haben die Starkenburg Philharmoniker am Sonntag eine packende Hommage an Gershwins Musik inszeniert. Das Orchester unter der gewohnt souveränen Leitung von Günther Stegmüller hat die packende Dramatik und den harmonischen, stets versöhnenden Grundton Gershwins mit viel Feingefühl und Leidenschaft dargeboten.
Das Publikum im gut gefüllten Saal erlebte einen leichtfüßig und beschwingt aufspielenden Klangkörper, der die mühelose Lässigkeit des großen Amerikaners ebenso zum Ausdruck brachte wie die klangliche Eleganz und kompositorische Klasse seiner Werke. „Ein Amerikaner in Paris“ lautete der Titel des Herbstkonzerts im Rahmen des Kultursommers Südhessen, der dann auch gleich das zentrale Stück des Abends herausgestellt hat.
Kompromisslose Liebe zum Detail von Dirigent und Ensemble
Hupen von Pariser Taxis hatte George Gershwin selbst im Gepäck, als er nach seinem Studienaufenthalt im Paris der 1920er-Jahre in die USA zurückkehrte und die begonnene Partitur seines Werkes vollendete, in der noch weitere Effektinstrumente zu hören sind, die das Leben in der französischen Hauptstadt akustisch so plastisch illustrieren. Die Starkenburg Philharmoniker haben die Tröten im Fundus des Mainzer Staatstheaters gefunden.
Auch hier offenbart sich die kompromisslose Liebe zum Detail, mit der Günther Stegmüller sein Ensemble vom Fundament bis in die Spitzen zu dirigieren weiß, ohne dem Orchester dessen Verve und Vitalität zu beschneiden.
Durch das Programm führte einmal mehr die Sängerin und Schauspielerin Jutta Werbelow, die mit dem 2003 gegründeten Orchester aus Amateuren und Berufsmusikern schon häufiger zusammengearbeitet hat. Zwar musste sie dem Publikum mitteilen, dass der Pianist Utku Asan aus gesundheitlichen Gründen absagen musste - doch mit der gebürtigen Russin Elena Kuschnerova war eine exzellente Künstlerin eingesprungen, die der „Rhapsody in Blue“ brillante Klangfarben schenkte und dieses Klavierkonzert im Look eines Jazz Standards zu einem Höhepunkt des Abends adelte.
Dass die Pianistin zeitweise auch in New York lebt und als Rachmaninow-Expertin gilt - der Komponist saß bei der Uraufführung 1924 selbst im Publikum - waren zwei schöne Fußnoten bei diesem recht vollendet zubereiteten Musikgenuss. Denn das lyrische Thema in Gershwins Meisterstück erinnert durchaus an Rachmaninow.
Musikalisch gelingt Gershwin in diesem „Klavierkonzert“ eine wunderbare Melange: Merkmale des Jazz wie synkopierte Rhythmik und Dissonanzen sind eingebettet in klassische Formen. Auch die Klangsprache der „alten“ Welt mit Nuancen der Spätromantik und des Impressionismus sind in diesem musikalischen Schmelztiegel zu erkennen.
Der Sohn russisch-jüdischer Einwanderer ist einer der bedeutendsten Klang-Schöpfer Amerikas. Er starb mit nur 38 Jahren, doch er hinterließ ein immenses musikalisches Erbe. Gershwins Musik überwand Genregrenzen. Heute sind seine Werke Teil des klassischen Orchester- und Klavierrepertoires, Stützpfeiler des Jazz und immer wieder auch inspirative Quellen für zeitgenössische Popmusik. Der Komponist schuf einen unverwechselbaren, eigenen Klang voller Sehnsucht und Süße, wobei hier kein klebrig-pappiger Zuckerguss gemeint ist, sondern betörende Harmonie und animierende Energie.
Ein anspruchsvolles Porträt der französischen Rush-Hour
Mit damals neuartigen Orchesterstücken wie „An American in Paris“ von 1928 erschloss George Gershwin eigene Klangwelten, mit quirligen Rhythmen, besagten Autohupen-Sounds und lautmalerischen Straßenszenen. Es wurde als Auftragskomposition für die New Yorker Philharmoniker verfasst. Die Aufführung fand am 13. Dezember 1928 in New York statt.
Ein technisch anspruchsvolles Porträt der französischen Rush-Hour, das die Starkenburg Philharmoniker glänzend nachgezeichnet haben. Man wähnt sich auf der quirligen Champs Elysees und spürt förmlich die morbid-frivole Atmosphäre am Montmartre.
Eine musikalische Erinnerung an Paris, die aber auch vom Heimweh des Amerikaners erzählt. Gespiegelt wird das von typisch amerikanischen Rhythmen und Melodien wie Ragtime und ein Blues im Mittelteil, der Gershwins Melancholie beschreibt. Dazu gesellen sich French Cancan und Charleston als Ausdruck von Lebensfreude und Lebenskunst in der europäischen Metropole. Ein Ton-Poem, das in Viernheim in seiner ganzen Komplexität wirkt: mal rauschhaft und schmissig, dann sentimental und nachdenklich, dann wieder temperamentvoll und lebensbejahend.
Es gibt wohl nur wenige Künstler, die sich so oft und leidenschaftlich für Gershwins „Rhapsody“ eingesetzt haben wie Leonard Bernstein, der bereits als Jugendlicher für diese Musik entflammt war. In Viernheim präsentierte das Orchester aus Bernsteins „Candide“ die Ouvertüre aus der Operette, die auf dem gleichnamigen satirischen Roman des französischen Philosophen Voltaire basiert.
Langer Applaus für Ensemble und Solisten
Auch dieses Werk vereint musikalische Einflüsse aus der „alten“ und der „neuen“ Welt. Bernstein verquirlt auf hoch dramatische Weise Vaudeville, Broadway, Comedy und Opern-Parodie zu einem Cocktail, der süffig schmeckt, aber überaus schwer zuzubereiten ist. Das Orchester hat auch diese Herausforderung mit bemerkenswerter Klangkultur und instrumentaler Klasse gemeistert.
Ausgarniert wurde das Herbstkonzert mit dem Danzon Nr. 2 von Arturo Márquez, das europäische und afrikanische Rhythmus-Formen umfasst, sowie der Uraufführung der Orchesterfassung von „Banjo and Fiddle“ nach William Kroll.
Solist Carol Vitéz präsentierte sein Arrangement für das Orchester. Der Geiger ist ein festes Mitglied der Starkenburg Philharmoniker, die mit diesem Konzert ein weiteres Mal ihr hohes Niveau und ihre stilistische Grenzenlosigkeit unter Beweis gestellt haben. Langer Applaus im Bürgerhaus für das Ensemble, den Dirigenten und die Solisten nach einem gelungenen Abend.
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