Vernissage

Ausstellung in Viernheim lädt ein, Kunst neu denken

Semra Sevin hat während der Corona-Zeit Kontakt zu 40 sehbehinderten Menschen. Ihre Eindrücke hat sie in der Ausstellung „(In)visible Differences“ verarbeitet, die jetzt im Kunsthaus in Viernheim zu sehen ist

Von 
Marion Gottlob
Lesedauer: 
Semra Sevin beschäftigt sich in ihren Installationen mit Fragen der Wahrnehmung. © privat

Viernheim. Es war eine Premiere für den Viernheimer Kunstverein: Bei der Vernissage zur Ausstellung „(In)visible Differences“ mit künstlerischen Installationen von Semra Sevin sprach ChatGPT die Einführung. Der Chatbot stand danach sogar für spontane Fragen aus dem Publikum zur Verfügung. Zwar gab es aufgrund einer nicht so optimalen Internetverbindung Verzögerungen, doch ChatGPT präsentierte durchaus vernünftige Antworten.

Ausstellung in Viernheim mit sehbehinderten Menschen konzipiert

Die Berliner Künstlerin Sevin hat für ihr Gesamtkonzept „(In)visible Differences – (Un)sichbare Unterschiede“ während der Corona-Zeit mit 40 sehbehinderten oder blinden Menschen aus Europa, Amerika, Afrika und Asien gesprochen. Ihre Ansprechpartner hatte sie unter anderem über Vereine, Foren und Einrichtungen im Internet recherchiert.

Die Isolation war für jeden schwierig, aber für Menschen mit einer Sehbehinderung war es besonders schwer.
Semra Sevin Künstlerin

„Die Isolation war für jeden schwierig, aber für Menschen mit einer Sehbehinderung war es besonders schwer. Blinde Menschen können mit Hilfe eines leisen Schnalzens mit der Zunge Abstände zu anderen Menschen erkennen. Mit der Maske war das nicht mehr möglich, so konnten sie den Mindestabstand zu anderen Menschen nicht selbständig einschätzen“, sagt sie.

Aus den Interviews entwickelte Sevin dann die Ideen für ihre Installation. In Viernheim ist ein Ausschnitt der Gesamtarbeit zu sehen. In seiner Begrüßung erläuterte Fritz Stier, Erster Vorsitzender des Kunstvereins: „Semra Sevin nutzt die künstlerische Intervention.“

Ketten lösen eine Flut an Tönen und ein Meeresaroma aus

Diese Methode wurde von Künstlern in den 1960er Jahren entwickelt und greift direkt in Zusammenhänge im öffentlichen Raum ein. Stier erklärt: „Die Künstler machen das Leben selbst und die Gesellschaft zum eigenen Material.“ Er nannte als berühmten Vertreter Joseph Beuys. Weitere Künstler sind zum Beispiel Gordon Matta-Clark sowie Christo und Jeanne Claude.

Der Mannheimer Morgen auf WhatsApp



Auf unserem WhatsApp-Kanal informieren wir über die wichtigsten Nachrichten des Tages, empfehlen besonders bemerkenswerte Artikel aus Mannheim und der Region und geben coole Tipps rund um die Quadratestadt

Jetzt unter dem Link abonnieren, um nichts mehr zu verpassen

Für die Viernheimer Präsentation wurde das Glas der Tür zum Kunsthaus extra schwarz verdeckt, so dass die Besucher einen dunklen Raum betreten. Der Blick fällt sofort auf das Kunstwerk „Ozeanien“. An der Decke ist eine abstrakte „Sonne“ montiert, um die Stahlbügel kreisen, an denen 220 lange Metallketten hängen. Semra Sevin hat die Stahlsegmente selbst zugeschnitten und die 14 Löcher gebohrt. Die Ketten sind auf raffinierte Weise mit elektrischen Kabeln verbunden. Wer also durch die Ketten geht oder sie berührt, löst über feinste, elektrische Impulse eine Flut von Tönen aus. Dazu wird ein Aroma von Meeresdüften verströmt.

Eine weitere Installation zeigt – erneut im Dunkeln – Wäscheleinen mit schwarzen Tüchern. Das Arrangement soll den Eindruck von „frischer Wäsche“ hervorrufen, so die Künstlerin. Ergänzt wird die Installation mit dem Gezwitscher von Vögeln und dem Summen von Bienen. Semra Sevin sagte: „Das sind Impressionen von blinden Menschen.“

Selbstporträts der sehbehinderten Menschen in Daten verarbeitet

Die sehbehinderten Interviewpartner hatten der deutschen Künstlerin auch Selbstporträts zukommen lassen. Sevin gab die Fotos in ein Computerprogramm ein, das die Bilder in Daten verwandelte. Diese Daten wurden für sie zur Inspiration für Kunstwerke, die jeweils individuell auf jeden Teilnehmer des Projekts abgestimmt sind.

Da gibt es zum Beispiel so etwas wie eine Metallharfe, der man über Berührung und elektrische Impulse künstliche Klänge entlocken kann. Sie steht für einen Mitwirkenden aus Arkansas, USA. Hinzugefügt ist in einer kleinen Dose sein Lieblingsduft „Kaffee“. Eine lila Schleife steht für Debby aus Los Angeles, ihr Lieblingsduft ist die Rose. Ein Bronzerelief wiederum ist dem Teilnehmer Samuel aus Kenia gewidmet.

Semra Sevin nutzt Kunst nach der Diagnose einer seltenen Krankheit

Semra Sevin lebt heute in Berlin, aufgewachsen ist sie in Braunschweig. Ihre Eltern sind aus der Türkei eingewandert und gehören der Minderheit der Aleviten an. Semra Sevin erläutert: „Für uns stehen der Humanismus und der Respekt vor anderen Menschen im Vordergrund.“ Nach dem Abi machte sie eine Fotografie-Ausbildung und arbeitete anschließend sieben Jahre lang mit namhaften Fotografen in Paris im Bereich der Mode- und Werbefotografie zusammen. Dann studierte sie das Fach „Film“ in Los Angeles. In einem Blog beschäftigte sie sich mit dem Miteinander von verschiedenen Rassen und Fragen der sexuellen Orientierung.

Mehr zum Thema

Konzert

Band „Phil“ in Viernheim ganz nahe am Original

Veröffentlicht
Von
Othmar Pietsch
Mehr erfahren
Bildung

Führungswechsel beim Viernheimer Lernmobil

Veröffentlicht
Von
Othmar Pietsch
Mehr erfahren
Städtebau

Protest gegen Baugebiet Nordweststadt II in Viernheim

Veröffentlicht
Von
Sandra Usler
Mehr erfahren

Die Bloggerin verhandelte gerade mit einer Investorengruppe, als sie die Diagnose einer seltenen Erkrankung erhielt. Das wurde für Sevin zum Schlüsselerlebnis. Sie wandte sich der Kunst zu. Sie sagt: „Das kann ich auch im Bett machen.“ So nutzt sie auch moderne Techniken, wie den 3D-Druck, um ihre Ideen umzusetzen.

Stationen der Ausstellungen extra auf Viernheimer Räume angepasst

Jede Station der Ausstellung musste extra für Viernheim aufgebaut und angepasst werden. Zweiter Vorsitzender Claus Bunte konnte für den Aufbau ein ehrenamtliches Team von zehn Helfern gewinnen, die im Wechsel neun Tage lang im Einsatz waren. Bunte sagt: „Es mussten immer wieder neue handwerkliche Lösungen gefunden werden.“

Bei der Vernissage spricht ChatGPT die Gäste über das Handy der Künstlerin an: „Es ist eine große Ehre, Sie willkommen zu heißen für die Präsentation der deutsch-türkischen Künstlerin Semra Sevin. Sie fordert uns auf, Kunst neu zu denken.“ Aus dem Publikum kommt die Frage: „Wie lange dauerte die Vorbereitung der Präsentation?“ ChatGPT schätzt die Zeit auf mehrere Monate. Damit hat das Programm nicht ganz Unrecht, wenn man die Entwicklung der Ideen und des Konzepts berücksichtigt.

Eine weitere Frage lautet: „Wie kann man das Konzept der Ausstellung weiterentwickeln?“ Der künstliche Redner schlägt vor: Man kann zum Beispiel die Möglichkeiten zur Interaktion zwischen Kunstwerken und Besuchern erweitern und Workshops anbieten. Das kann man im Grunde für jedes Konzept einer Ausstellung empfehlen, obwohl gerade diese Präsentation im Grunde bei fast jeder Station die Interaktion schon mitgedacht hat. Erster Vorsitzender Stier forderte die Besucher auf: „Gehen Sie von Station zu Station, hier können Sie hören, riechen, spüren und fühlen.“

Die Ausstellung ist bis zum 18. Mai zu sehen. Das Kunsthaus ist Donnerstag und Freitag, jeweils 15 bis 18 Uhr, und Samstag, von 10 bis 13 Uhr geöffnet.

Freie Autorin

Copyright © 2025 Südhessen Morgen

VG WORT Zählmarke