Erzähl mir was 2025 - Teil 4

„MM“-Schreibwettbewerb „Erzähl mir was“: Macht, Kartoffelsuppe und Homöopathie

Zum Thema unseres Schreibwettbewerbs „Macht und Mensch“ trägt Klara Di Algese die dramatische Geschichte einer Berufsschullehrerin und einer Auszubilden bei – ein Blick auf männliche Dominanz.

Von 
Klara Di Algese
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Frau am Fenster. © Getty Images

Das Baby im blaugestreiften Strampler biss ohne Zähnchen auf seinen Holzring. Gluckste vor Lebensglück.

„Ja, du bist Mamas Goldschatz!“, sagte die junge Mutter.

„Goldschätze sind wichtig, aber zuweilen versperren sie den Weg zum Geld“, sagte eine Frau in Hosenanzug und drängte sich am Kinderwagen vorbei.

„Unser Erstgeborener!“

„Wie schön!“, sagte ich. Auch ich war in Eile.

„Sie kennen mich nicht mehr? Ich bin Francesca. Früher Francesca Libertas.“

Sie sah mich an: „Sie waren meine Lehrerin.“

„Aber natürlich, Francesca, Francesca Libertas“, sagte ich so herzlich ich konnte. Gleichzeitig materte ich mein Hirn: welche Schulart? Welche Klasse? Welches Fach?

„Es ist alles gutgegangen damals!“

„Ja, schön!“, sagte ich und hätte mich ohrfeigen können für meine plötzliche Amnesie.

Souverän beendete sie die Situation: „Ich muss weiter. Alles Gute!“

„Ja, alles Gute auch für Sie!“ sagte ich und beugte mich über den Kinderwagen: „Du bist aber wirklich ein kleiner Goldschatz!“

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Als der Nadeldrucker meinen Kontoauszug im Foyer der Bank ausspuckte, war alles wieder präsent. Ein regnerischer Herbsttag. Ich hatte Pausenaufsicht im obersten Stockwerk. Nur flüchtig schaute ich in die leeren Zimmer. Mit ausgebreiteten Armen stand sie im mittleren Fenster. Leicht vornübergebeugt. Kurz vor dem Sprung.

„Welchen Sinn macht es zu springen?“, fragte ich leise, ging langsam zum Pult.

Reden. Verständnis zeigen. Die Beine fassen. Wir hatten das in der Fortbildung theoretisch besprochen, nie geübt. Ich war Mitte 50.

„Ich springe aber“, sagte das Mädchen im Fenster.

„Wenn du Glück hast, stirbst du schnell. Wenn du Pech hast, landest du im Rollstuhl.“

Sie drehte sich zu mir um. Ich rannte los, fasste ihre Beine.

Es war kompliziert. Ließ ich Schulleitung und Beratungslehrer außen vor, überschritt ich meine Kompetenzen. Informierte ich den Schulleiter, ginge alles seinen Gang: Notarzt. Einweisung in die Psychiatrie.

Ich machte keinen Vermerk im Klassenbuch und bot ihr an, uns am Abend in der Kunsthalle zu treffen. Ab 18 Uhr war der Eintritt frei.

Nein, ihr Ausbilder habe sie nicht gezwungen, mit ihr zu schlafen, sagte sie. Nein, er habe sie auch nicht genötigt. Er habe ihre Schönheit bewundert. Ihre langen dunklen Haare. Den hübschen Teint. Den wunderschönen Mund. Die glatte Haut.

Einen Tag nach ihrem achtzehnten Geburtstag sei es zum ersten Mal geschehen. Sie sprach von Liebe. Vom neuen Leben in ihrem Bauch. Von Ehre. Von Heirat. Ihr Vater würde sie totschlagen, wenn er davon wüsste. Sie seien „echte Itakker“. Katholisch. Mit Prinzipien.

Wir standen vor meinem Lieblingsbild: „Die Erschießung Kaiser Maximilians von Mexiko“ von Edouard Manet.

„Sie können ihn anzeigen, Ihren Ausbilder“, sagte ich. „Er hat Ihr Abhängigkeitsverhältnis schamlos ausgenutzt. Jeder Richter wird das so sehen.“

Sie fühle sich verraten und beschmutzt. Aber anzeigen würde sie ihn nicht. Er würde die Kosten für die Abtreibung übernehmen, habe er gesagt. Die Klinik für sie buchen. Sie offiziell zu einer Weiterbildung in die Niederlande schicken. Sie an einen anderen Ausbilder in einer anderen Stadt vermitteln und bis zum Examen finanziell unterstützen. Vorausgesetzt, sie würde eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben. Wenn nicht, würde sein Anwalt die Sache regeln.

Ich hörte zu. Sagte nicht, was ich dachte. Stattdessen schlug ich vor, alle Optionen durchzuspielen, die ihr blieben. Was wären ihre Chancen als alleinerziehende Mutter ohne Ausbildung? Verstoßen von ihrer Familie. Auf staatliche Hilfe angewiesen. Das Jugendamt an der Seite und im Nacken. Vielleicht würde man sie sogar zur Adoption ihres Kindes drängen.

Sie spüre das Kind, sagte sie unvermittelt und legte beide Hände auf ihren flachen Bauch. Sie könne es nicht töten.

Klara Di Algese

  • Klara Di Algese ist ein Pseudonym und eine Hommage an den Heimatort der Autorin im Rheinhessischen. Ihren bürgerlichen Namen möchte sie nicht publik machen. Mannheim ist ihr Lebensmittelpunkt. Zunehmend frei werdende Zeit im Rentenalter nutzt sie, Neues auszuprobieren.
  • Die Arbeit als Medizinisch-technische Assistentin in der Pathologie Anfang der 70er Jahre , Studium und Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien zu Zeiten der RAF, Beratertätigkeiten in Unternehmen und Lehraufträge an Schulen, Hochschulen und Universitäten bieten Impulse für Algeses literarisches Schreiben.
  • Figuren und Plots der Kurzgeschichten und eines fast fertigen Romans sind fiktiv, haben jedoch reale Hintergründe . „Erzähl mir was“ ist ihr erster Schreibwettbewerb.

Am nächsten Berufsschultag fehlte sie. Mitten in der Nacht klingelte das Telefon. Sie könne nicht schlafen, sagte sie. Sie liege in einem Einzelzimmer. Alle sprächen deutsch. Die Ärzte. Das Pflegepersonal. Sogar die Reinigungskräfte. Sie fühle sich so allein.

Nein, es habe nicht weh getan. Nein, sie habe auch jetzt keine Schmerzen. Aber sie fühle sich so leer. So schuldig.

Ob sie beten könne, fragte ich. Ich versuchte, nicht ungehalten zu klingen. Bis 22 Uhr hatte ich Klassenarbeiten korrigiert. Um 5:30 Uhr würde mein Wecker klingeln. Ich brauchte meinen Schlaf.

Nein, beten könne sie nicht, sagte sie. Das fände sie auch unverfroren, Gott gegenüber.

Ob sich ihr Ausbilder gemeldet habe?

Jetzt weinte sie. Nein, er würde für alles sorgen, habe er gesagt, aber den Kontakt zu ihr abbrechen. Seine Frau, seine Kinder, die würde er nie verlassen.

„Und ich dachte, er liebt mich!“ schluchzte sie.

Ob sie sich vorstellen könne, ihre Energie in ihre Ausbildung zu stecken? fragte ich. Geld verdienen? Einen Mann in ihrem Alter finden?

„Ich habe keine Kraft“, flüsterte sie.

Meine Festnetznummer habe sie gegoogelt. Ob sie wieder anrufen dürfe?

Am nächsten Morgen verpasste ich die Bahn. Mein Chef stand im Lehrerzimmer an meinem Tisch. Die Arme vor der Brust verschränkt, sah er auf seine Armbanduhr. Ich solle bitte in der Mittagspause in sein Büro kommen.

Wie eine Schülerin saß ich vor meinem ein Jahr älteren Schulleiter. Die Schreibtischplatte in Mahagonioptik zwischen uns. Lange schaute er auf den Monitor, dann auf mich.

Ich sei gesehen worden, sagte er. In der Kunsthalle mit einer Schülerin. Die Praxis habe sie abgemeldet. Was ich damit zu tun hätte.

„Nichts“, sagte ich.

Er lief rot an. Gegen Bluthochdruck nahm er Globuli. Griffbereit stand das Fläschchen neben der Schale mit seinem Füllfederhalter.

„Halten Sie mich doch nicht für dumm! Wieso gehen Sie mit einer Schülerin abends aus?“

„Wir haben uns zufällig getroffen“, sagte ich.

Er machte eine unwillige Bewegung.

„Übrigens, wer befördert wird, bestimme immer noch ich!“, sagte er mit drohendem Unterton.

Ich schwieg. Eine außerreguläre Beförderung machte etwa 200 EUR netto im Monat aus. Ich durfte jetzt nicht die Contenance verlieren.

„Nie die Contenance verlieren!“, hatte mir meine Großmutter väterlicherseits eingeschärft. Plötzlich roch ich ihre unvergessliche Kartoffelsuppe.

Warum stellt er seine Globuli so offen zur Schau?, dachte ich. Kolleginnen versteckten ihre Rescue Tropfen in ihren Täschchen; nahmen sie heimlich auf dem Klo.

„Es geht nicht, dass Sie fraternisieren!“

„Das liegt mir fern!“, sagte ich. „Ich kenne die Gesetze. Die Schülerin ist volljährig.“

Wieder schaute er auf den Monitor. Machte sich Notizen auf einem Zettel.

„Sie können gehen!“

Francesca Libertas wurde ohne Aufsehen ausgeschult. Abgesegnet durch eine außerordentlich einberufene Klassenkonferenz.

Mein Antrag auf außerreguläre Beförderung aufgrund besonderer Leistungen und Sonderaufgaben wurde seitens der Schulleitung nicht weiter befürwortet.

Als ich in dieser Zeit nach einem langen Spaziergang, immer noch wütend und gleichzeitig niedergeschlagen, mit meinem zweiten Mann im „Chez Pièrre“ am Golfplatz einkehrte, sah ich Francescas Ausbilder am Tresen neben meinem Schulleiter stehen. Die beiden schienen sich angeregt zu unterhalten.

„Sollen wir uns dazustellen?“, fragte mich Tom.

„Was soll das bringen?“

„Konfrontation. Klärung. Klarheit.“

„Komm, lass uns bestellen!“, sagte ich.

„Okay, nehmen wir Französische Kartoffelsuppe mit Croutons!“ Er grinste wie ein Lausbub.

Erzähl mir was, 6. Auflage

  • Die Schlussrunde : Unter den rund 50 Geschichten, die Leserinnen und Leser zum Thema „Macht und Mensch“ eingereicht hatten, hat die Jury dieser Redaktion nun die ihrer Meinung nach zwölf besten für das Finale bestimmt. Sie finden sich in unserem Themenschwerpunkt "Erzähl mir was".
  • Die Onlineabstimmung: Unsere Leserinnen und Leser können dann vom 27. August bis 5. September 2025 online abstimmen , wer die ersten sechs Plätze des Wettbewerbs belegt.
  • Abstimmung unter: mannheimermorgen.de/erzaehlmirwas

Von Francesca hörte ich nichts mehr. Ihren Ausbilder kenne ich von der Tanzschule her. Ich war fünfzehn, er sechzehn. Die Praxis hat er von seinem Vater übernommen und modernisiert. Ein gutaussehender Hausarzt in gutgehender Praxis. Typ Freigeist. Segler und Geigenspieler. Spät heiratete er die Tochter eines mittelständischen Unternehmers. Ab und zu half sie in der Praxis aus, nannte ihren Mann vor Patienten und Auszubildenden „der Herr Doktor“.

„Herrn Doktor“ sah ich letzten Mittwochabend auf der Ausbilderversammlung. Er wirkte gelöst. Stöhnte, mit über sechzig sei so ein junges Glück nervenaufreibend, aber unfassbar schön.

Nach Rechenschaftsberichten, Aussprachen und Wahlen zu unterschiedlichen Gremien, standen wir an weiß gedeckten Stehtischen bei Häppchen und Wein.

Ja, er habe Lizzy Sternthal geheiratet. Gleich nach ihrem Examen. Seine junge Frau duze sich mit dem Praxispersonal, komme mit Putz- und Zugehfrau unkompliziert zurecht. Sie mache ihn glücklich. Nachwuchs sei unterwegs.

Ich schaute hinüber zum neuen Schulleiter, der ein paar Tische weiter seine Honneurs machte.

Beide Söhne würden in die Praxis einsteigen.

„Sagt dir der Name Francesca Libertas etwas?“, fragte ich so beiläufig wie möglich und hielt die Luft an.

„Ja“, sagte er. „Eine ehemalige Auszubildende von mir. Sehr begabt. Wechselte in eine Gemeinschaftspraxis mit einem breiteren Leistungsangebot. Lange her.“

Er sah auf die Taucheruhr an seinem Handgelenk, nahm einen Schluck Weißwein.

„Ich muss los! Alles Gute bis zum nächsten Mal!“ Er klopfte auf die Tischplatte.

„Ein toller Mann!“, sagte Ina, die neue Referendarin.

„Tja“, sagte unser Abteilungsleiter. „Wenn sein Nachwuchs Abi macht, ist er achtzig.“

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