Eigentlich immer, wenn es so richtig regnete, war die Tram brechend voll. Die letzten Stationen bis zur Uni glichen dann einem wachsenden Knäuel von Menschen. Dicht an dicht, als seien sie Körper in einem deutlich überfüllten Aquarium. Der Blick nach draußen war durch den kondensierten Atem versperrt. Und irgendwie so fühlte sich innerlich auch Mathildas Dasein an: eingeengt, ja fast eingesperrt! Festsitzend in den Gedanken der vergangenen Nacht, die sich mit den Ereignissen der letzten Wochen beschäftigten. Es war dieses tiefgründige Grübeln, das sich seit ihrer Abwahl als Frauenbeauftragte wie eine Verletzung anfühlte.
Dass die Landesregierung fast handstreichartig die Möglichkeit geschaffen hatte, auch Männer zu Frauenbeauftragten zu machen: Ja, das war krass! Und es stand ja sogar im Raum, dieses Amt ganz abzuschaffen, wie es der erzkonservative Wissenschaftsminister gefordert hatte. Aber dass man sie nach zwei Perioden an ihrer Uni nicht mehr gewählt hatte, sondern ausgerechnet jenen Mann zum Frauenbeauftragten gemacht hatte, der das Amt viele Jahre als Senatsmitglied immer wieder massiv diskreditierte: Himmel, das war doch irre!
Die Enttäuschung über die fehlende Solidarität der Frauen im Senat stieg an diesem Punkt immer wieder in ihr auf. Wie eine Männerclique in Erfüllung der Ministeriumserwartung den Frauen dieser ehrwürdigen Universität das Amt ohne Gegenwehr wegnahm, fühlte sich noch immer wie ein Putsch an. Aber das Schmerzhafteste war die böswillige Intrige von Professor Großmann als neuem Frauenbeauftragten. Ein Schmierenstück, das Mathilde in ihren Träumen wie einen an ihrem Körper angesetzten Dolch zu spüren glaubte.
Er hatte ihr den Zutritt zu ihrem bisherigen Büro einfach verweigert und begründete dies damit, dass der Verdacht des Amtsmissbrauchs gegeben sei. Sie hätte unrechtmäßig in den zurückliegenden Jahren die Ressourcen der Frauenbeauftragten für Frauen aus Randgruppen, insbesondere Studierende mit Migrationshintergrund, eingesetzt – so der üble Vorwurf. In den unruhigen Nächten wachte sie seither immer wieder schweißgebadet aus dem Schlaf auf und fühlte eine Enge um ihre Brust.
Hier in der Bahn sitzend, wie es seit dem Ruf auf ihre Professur vor 16 Jahren morgens und abends fast ihrer Lebensroutine entsprach, wurde Mathilda im Kreise dieser jungen Menschen unvermittelt die eigentliche Freude ihres Wirkens wieder bewusst. Tatsächlich empfand sie ihre berufliche Aufgabe als Professorin und später auch als Frauenbeauftragte der Uni über all die Jahre als eine wirkliche Berufung.
Doch der Gedanke an die heutige Anhörung verstärkte ihre unangenehme Beklommenheit, mit der sie sich bereits aus dem Bett geschleppt hatte. Schon als junge und zunehmend selbstbewusste Frau war ihr jeglicher Verlust von körperlicher, aber vor allem demokratischer Bewegungsfreiheit und Selbstbestimmung eine Art Gräuel. Und dagegen erforderlichenfalls Widerstand zu leisten, hatte sie sich fast schon zur Lebensmaxime gemacht. „The future is female“, lautete der optimistische Spruch, den Mathilda und ihre Freundinnen sich als Jugendliche etwas überschwänglich auf ihrer Schulter stechen ließen. Auch ihr Mann und ihre beiden Töchter fanden das Tattoo cool.
Der Gedanke an diese wilde Zeit mit ihren Freundinnen ließ Mathilda spontan ein wenig lächeln, als sie nun vor dem Sitzungsaal der Uni darauf wartete, von der Senatskommission zu den von Prof. Großmann aufgebrachten Vorwürfen angehört zu werden. Und ein weiterer Gedanke fühlte sich in diesem Moment wie eine kleine Inspiration an: „Frauenrechte sind Menschenrechte!“.
Dieses Motto, das sie noch vor einem Jahr als Titel des Treffens der Frauenbeauftragten an Hochschulen hier an der Eingangstür selbstbewusst aufgehängt hatten, kam ihr in den Sinn. Seither hatte sich so unerwartet schnell so viel gewandelt: „Stoppt den Genderwahnsinn!“ Nie hätte Mathilda gedacht, dass mit dieser radikalen Forderung von mächtigen Männern ein so folgenreicher Angriff auf die Geschlechtergerechtigkeit und Gleichstellungspolitik auf den Weg gebracht werden könnte. Dieser griff mittlerweile unsäglich um sich. Viele der bisherigen Frauenbeauftragten waren unter Druck geraten.
Peter Mudra
- Der 63-jährige, gebürtige Wormser Peter Mudra lebt mit seiner Familie seit Jahrzehnten in Mannheim.
- Nach einer Ausbildung zum Bankkaufmann arbeitete er von 1980 bis 2000 in der Branche. Ab 1988 studierte Mudra Pädagogik sowie Betriebswirtschaft und promovierte 1998 im Fach Berufspädagogik an der Universität Karlsruhe.
- Im September 2000 übernahm er eine Professur für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Personalmanagement und -entwicklung, an der Fachhochschule Ludwigshafen. Von 2010 bis 2022 war er Präsident der heutigen Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen .
- Mit dem Schreiben von Kurzgeschichten hat der leidenschaftliche Radfahrer 2023 begonnen und im selben Jahr mit seiner Erstlingsgeschichte bei Erzähl mir was teilgenommen . Auch damals erreichte er das Finale.
„In der Angelegenheit Untreueprüfung gegen Professor Dr. Mathilda Nola bitte ich Sie einzutreten“, kam eine Stimme aus dem gerade geöffneten Saal. Mathilda hasste diese Anrede! Denn als Professorin wollte sie auch in der weiblichen Form angesprochen werden. Sie trat ein und wurde vom Vorsitzenden aufgefordert, in der Mitte des Raumes an einem Tisch Platz zu nehmen. Obwohl man sich seit Jahren kannte und zusammenarbeitete, ließ er bei der Begrüßung und Einführung jegliche Freundlichkeit vermissen. Distanziert und unterkühlt wirkten seine Ausführungen, als gelte es, zu einer „Beschuldigten“ keinesfalls eine konspirative Nähe vorgehalten zu bekommen. War es die Anwesenheit eines Ministeriumsvertreters, die ihn so veränderte?
Mathilda spürte, dass auch die anderen Mitglieder, die sie durch ihre Arbeit seit Jahren kannten und mehrheitlich wohl immer geschätzt hatten, mit einer Art gefühlsmäßiger Entlegenheit reagierten: Sie wichen jeglichem Blickkontakt mit ihr aus. Mathilda fröstelte, es schien ihr so kalt in dieser Runde. Sie musste an sich halten, um sich nicht dieser Delinquentenrolle zu unterwerfen.
Der Vorsitzende erteilte Prof. Großmann, dem Frauenbeauftragten, das Wort. Großmann baute sich – fast wie bei einem Strafprozess – stehend vor Mathilda und den Ausschussmitgliedern auf und erhob streng seine Stimme: „Sehr geehrte Ausschussmitglieder, wir haben es hier mit einem so grundsätzlichen und gravierenden Fehlverhalten zu tun, das förmlich nach konsequenter Bestrafung ruft. Bedenken Sie: Sie sind es der Universität schuldig, allem, wofür die ideologische Amtsführung meiner Vorgängerin stand, ein für alle Mal einen Riegel vorzuschieben. Es wird Zeit, dieser Gender-Mainstreaming-Gesinnung den Kampf anzusagen!
Diese Machenschaften sind in Wirklichkeit nichts Anderes als ein „Reboot des Feminismus“. Das braucht keiner, und das will keiner!“ Großmann schaute zum Beauftragten des Ministeriums. Scheinbar erhoffte er eine zustimmende oder sogar anerkennende Regung. Aber es war nichts erkennbar. Nun arbeitete er sich an den konkreten Einzelfällen des vermeintlichen Fehlverhaltens ab, verwickelte sich dabei allerdings überraschenderweise immer wieder in logische Brüche.
Beim eigentlich zentralen Punkt, dass Gelder für weibliche Studierende mit Migrationshintergrund unrechtmäßig verwendet wurden, lieferte sein langatmiger Anklage-Monolog keine rechtlichen Bezugspunkte für einen Verstoß. Großmann schloss mit der pathetischen Formel: „Unser Ministerium weiß, was für die Universitäten richtig ist. Lassen Sie uns für die Aufgabenwahrnehmung der Frauenbeauftragten dem Weg der Vernunft unseres Ministers folgen!“
Mathilda, die das alles bis hierhin mit großer Überwindung über sich übergehen ließ, wandte sich an den Vorsitzenden mit dem Wunsch, nun zu den Ausführungen von Großmann Stellung zu nehmen. Zur allgemeinen Verwunderung wurde ihr aber das Wort nicht erteilt. Der Vorsitzende begründete dies mit dem Hinweis, sie habe ja bereits zu den Anschuldigungen schriftlich ausführlich Stellung genommen.
Erzähl mir was, 6. Auflage
- Die Schlussrunde : Unter den rund 50 Geschichten, die Leserinnen und Leser zum Thema „Macht und Mensch“ eingereicht hatten, hat die Jury dieser Redaktion nun die ihrer Meinung nach zwölf besten für das Finale bestimmt. Sie finden sich in unserem Themenschwerpunkt "Erzähl mir was".
- Die Onlineabstimmung: Unsere Leserinnen und Leser können dann vom 27. August bis 5. September 2025 online abstimmen , wer die ersten sechs Plätze des Wettbewerbs belegt.
- Abstimmung unter: mannheimermorgen.de/erzaehlmirwas
Ein junger Professor, Aubin Chevalier, trat hervor und ergriff das Wort. Er ließ sich auch von der Intervention des Vorsitzenden nicht abhalten. Er war ruhig, eher unscheinbar, doch seine Worte hallten nun klar und deutlich durch den Raum:
„Es ist nun der Punkt, an dem ich ein Plädoyer in dieser wirklich ominösen Sache einbringen muss!“, sagte er sehr bestimmt und führte direkt seine Überlegungen aus. „Dieses Verfahren kann man nicht nur als Angriff auf jegliche Fairness bezeichnen, es ist juristisch völlig unhaltbar.“ Chevalier ließ sich von den durch wilde Gesten geprägten Interventionsversuchen des Frauenbeauftragten und auch des Ausschussvorsitzenden nicht abhalten, fortzufahren. „Es scheint, als würde hier nicht nur Professorin Nola an den Pranger gestellt, sondern das Prinzip der Gleichberechtigung selbst. Die Abwahl einer engagierten Frauenbeauftragten in einem Gremium, das ja ganz offensichtlich von sehr gesetzten männlichen Professoren dominiert wird, und ihre Ersetzung durch einen Kollegen, der nun mit solchen Vorwürfen agiert, lässt nur einen Schluss zu: Man versucht, selbstbewusste Frauen mundtot zu machen und die Gleichberechtigung zu einer Farce verkommen zu lassen.“
Als Mathilda schon lange ebenso wie Prof. Chevalier aus dem Raum herauskomplimentiert worden war und eine Stunde später von der Abstimmung des Gremiums in Kenntnis gesetzt wurde, war ihr das gar nicht das nicht mehr so wichtig. Sie hatte gerade etwas erlebt, was ihre guten Träume wieder beflügeln würde. Am Ausgang des Unigebäudes entdeckte sie zwei Personen, die ihr gerade jetzt so guttaten. Ihre beiden Töchter empfingen sie mit offenen Armen und einem Strauß roter Nelken.
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