Erzähl mir was 2025, Teil 5

„MM“-Schreibwettbewerb „Erzähl mir was“: Der Damenschneider

Willy Dirnsteiners Beitrag zu „Mensch und Macht“ ist ein provokanter Dialog über Gewalt an Frauen, Gegengewalt, Genetik und Macht – aktuell und zugespitzt.

Von 
Willy Dirnsteiner
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In der Geschichte geht es um die Idee, die Gene so zu verändern, dass Frauen stärker sind als Männer. © Getty Images DrAfter123

„Ist Ihnen Gewalt an Frauen ein Begriff?“, fragte Herr Prof. Dr. Tiefach seine Kollegen, mit denen er sich zur Vorstellung seiner Idee zusammengefunden hatte.

Seine Kollegen nickten zum ersten Mal.

„Sie geschieht etwa als Kriegsverbrechen, Partnerschaftsgewalt, kulturelle Tradition oder Menschenhandel. Jährlich werden über 80.000 Frauen getötet, die meisten in Familie und Partnerschaft. Jede fünfte bis dritte Frau auf der Welt ebenso wie in Europa wird mindestens einmal im Leben von einem Mann angegriffen. Zwei Drittel der Frauen in Deutschland erleben sexuelle Belästigung. Jeder dritte Mann hierzulande übt Gewalt an Frauen aus oder billigt sie. In anderen Ländern wird die große Mehrheit der Frauen zum Opfer. 100 Prozent müssen in Angst leben. Das sind zu viele.“

Seine Kollegen nickten zum zweiten Mal.

„Es ist aus ethischen Gründen wichtig, Frauen zu unterstützen, nicht Opfer dieser ungerechten Gewalt zu werden.“

Seine Kollegen nickten zum dritten Mal.

„Das wirksamste Mittel gegen ungerechte Gewalt ist die glaubhafte Androhung und notfalls Ausübung überlegener Gegengewalt.“

Einer seiner Kollegen nickte zum vierten Mal, der zweite zögerte, bevor er ebenfalls nickte, der dritte zögerte, bevor er sich entschloss, nicht zu nicken.

„Sind Sie anderer Meinung, Herr Treu?“, fragte Herr Tiefach den Nichtnicker.

Wieder zögerte selbiger, bevor er antwortete: „Es gibt doch bessere Mittel gegen Gewalt.“

Herr Tiefach stellte die Frage so schnell, als ob er darauf vorbereitet gewesen wäre: „Welche?“

Zum dritten Mal zögerte Herr Treu: „Bildung; Therapie; polizeiliche Überwachung.“

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„Sie wollen also Gewalttäter überzeugen, keine Gewalttäter zu sein. Lobenswert. Es sollte viel dafür getan werden, dass Männer Gewalt an Frauen falsch finden.“ Dies sagte Herr Tiefach und richtete seine Rede an einen anderen Kollegen: „Herr Turner, Sie beschäftigten sich in letzter Zeit mit den Erfolgen der Krebsprävention. Wie erfolgreich war man seit den 50ern, Menschen zu überzeugen, nicht zu rauchen, sich zu bewegen und sich vor der Sonne zu schützen?“

Herr Turner verstand: „Es gibt Erfolge, allerdings auch Rückschläge. Wir dringen längst nicht zu allen durch. Worauf Sie wahrscheinlich besonders hinauswollen: Für eine Gesellschaft sind ein gewisser Anteil, sagen wir mal 20 Prozent der Menschen, die ungesund leben, noch akzeptabel – doch 20 Prozent gegenüber Frauen gewaltbereite Männer nicht. Ihre Zahl müsste weitaus niedriger sein.“

Nun war es Herr Tiefach selbst, der nickte: „Richtig. Hinzu kommt, dass es bei Ihrem Thema darum geht, Menschen von etwas abzuhalten, was für sie selbst schädlich ist. Einen Gewalttäter hingegen muss man von etwas abhalten, was für andere schädlich ist. Was es noch schwieriger macht: Die kommende Generation junger Männer reift, auch durch die sozialen Medien, zu Frauen abwertenden Pickup-Artists, Rache suchenden Incels oder anderen Mannosphere-Anhängern heran. Beispiel: Es hat ein 20-jähriger Muskelprotz, der seit seinem zwölften Lebensjahr eingetrichtert bekam, dass er als Mann stark sein und diese Stärke auch ausleben müsse, der erzählt bekam, dass Frauen ihm unterlegen seien, der kaum reale Kontakte hatte, labil und wenig empathisch ist, eine Partnerin. Die tut etwas, was ihm nicht passt. Er schlägt zu. Soll sie dann mit einem Bildungsangebot oder einer Therapie kommen, um ihn von der Verwerflichkeit seines Handelns zu überzeugen? Sind wir uns einig, dass das in diesem Moment sinnlos wäre?“

Seine Kollegen nickten zum vierten Mal gleichzeitig.

Willy Dirnsteiner

Der Autor wurde am 14. Oktober 1998 in Mannheim geboren .

Nach dem Master of Sciene in Verkehrssystemmanagement an der Hochschule Karlsruhe arbeitet Willy Dirnsteiner seit 2023 als Verkehrsplaner bei der rnv .

Seine Motivation zum Schreiben: „Zwar komme ich wenig dazu, mich mit Literatur zu befassen (da der größte Teil meines Lesebudgets selbstredend auf den ‚Mannheimer Morgen‘ entfällt …), und betreibe keine Schriftstellerei. Doch wenn das „Erzähl mir was“-Thema verkündet wird, kommen mir manchmal Ideen, woraufhin ich mich an die ,Arbeit‘ mache – mit jugendlichem Leichtsinn, ausdrucksbedürftigem Weltschmerz und heiterer Ironie.“

„Erster Punkt: Der Gewalttäter wird zu oft nicht mit Worten abzuwehren sein. Zweiter Punkt: Herr Treu, Sie erwähnten die Polizei. Diese ist die institutionalisierte, überlegene Gegengewalt.“

Der Kollege, der bisher noch nichts gesagt hatte, Herr Caster, meldete sich zu Wort: „Die Polizei ist aber nicht überall. Deshalb gibt es die Notwehr. Die Frau muss in der Lage sein, sich erfolgreich zu wehren, und zwar mit Gewalt.“

Herr Treu wand sich, als er einräumte: „Sie haben ja recht. Wissen Sie, ich bin ein friedliebender Mensch, der nie Gewalterfahrungen machte, aufgewachsen in einer Gesellschaft, in der Gewaltlosigkeit ganz oben steht. Dass das alles etwas naiv bis selbstgerecht ist, ist mir klar. Doch was haben Sie vor? Mehr Selbstverteidigungskurse für Frauen? Also mich hat es schon immer geärgert, dass Mädchen im Sportunterricht Bändertanz statt Karate machen.“

Herr Tiefach nickte nur leicht: „Wieder muss ich sagen: Das ist das eine. Das andere ist ein 20-jähriger Muskelprotz, der in Fitness und Kampf die Männlichkeit sieht. Je nachdem, wie geübt die Frau ist, kann sie eine Chance gegen ihn haben – doch es ist wahrscheinlich, dass es immer noch ungleich zu seinen Gunsten steht.“

Herr Treu seufzte: „Biologische Unterschiede lassen sich leider noch weniger überzeugen, nämlich gar nicht.“

Herr Caster schob die Augenbrauen zusammen und beugte sich zu Herrn Tiefach: „Sie schlagen jetzt bestimmt nicht vor, dass Nagelstudios Stahlspitzen an Frauenfinger kleben. Was ist Ihre Idee?“

Der Mannheimer Autor Willy Dirnsteiner. © Felix Krüger

Herr Tiefach wurde feierlich: „Mein Vater war Damenschneider. Ich bewundere bis heute, wie er mit seiner Schere die Frauen veränderte. Ich bin Wissenschaftler. Ich will, ich muss, auch die Frauen verändern. Und ich habe dafür, neben Ihrer Mithilfe, die beste Schere, die die Erde bietet.“

„CRISPR-Cas“, vollendete Herr Turner die Rede Herrn Tiefachs.

Herr Treu, eben noch versöhnt mit den Ansichten seines Kollegen, platzte heraus: „Sie wollen ernsthaft die Gene von Mädchen so verändern, dass Frauen stärker sind als Männer?“

Herr Tiefach blieb vollkommen gelassen: „Ja. Gäbe es daran etwas auszusetzen?“

Herr Treu wurde noch unruhiger: „Wir diskutieren seit Jahrzehnten, ob es ethisch und ökologisch vertretbar wäre, Gene zu verändern, die zu seltenen Krankheiten führen – und Sie wollen einfach mal die Hälfte der Menschheit massiv ändern?“

„Von solchen Krankheiten sind weitaus weniger Menschen betroffen als Frauen von Gewalt.“

Herr Caster sprang Herrn Tiefach bei, jedoch mit etwas Skepsis: „Unter der Prämisse, versteht sich, dass das Verfahren sicher sein wird, befürworte ich Ihre Idee. Doch gäbe es nicht die Gefahr, dass stärkere Frauen selbst gewalttätig würden? Gar die Macht übernähmen? Ich denke da an eine Next-Generation-Episode.“

Auch auf diesen Einwand wusste Herr Tiefach eine Antwort: „Ich vertraue darauf, dass sowohl das biologische als auch das soziale weibliche Geschlecht weniger aggressiv sind als das männliche.“

Herr Treu warf das nächste Argument ein: „Und wie wehren sich Frauen gegen rechtsextreme Schläger, die meist in Überzahl angreifen?“

„Es geht mir nicht darum, die krasseste Straßenkriminalität unmöglich zu machen, sondern der überwiegenden Mehrheit der Frauen einen normalen Alltag zu ermöglichen.“

Herr Treu fuhr fort: „Und was ist mit kleinen Mädchen, die Opfer ihres Vaters werden und noch nicht stark genug sind, sich zu wehren?“

„Ich spreche von Gewalt an Frauen, nicht an Kindern.“

Da meldete sich Herr Turner: „Apropos: Wie viele Eltern werden es zulassen, dass ihre Kinder verändert werden? Es gibt, gerade auch bei der Medizin und der Gleichberechtigung, Eltern, die unter dem Kindeswohl etwas ganz anderes verstehen als wir. Viele werden eine ‚normale‘ Tochter haben wollen, viele werden sie sogar bewusst schutzlos lassen. Und diese schwachen Frauen wären ein gefundenes Fressen für den, wie Sie so schön sagen, 20-jährigen Muskelprotz mit seinem antiquierten Frauenbild.“

Erzähl mir was, 6. Auflage

  • Die Schlussrunde : Unter den rund 50 Geschichten, die Leserinnen und Leser zum Thema „Macht und Mensch“ eingereicht hatten, hat die Jury dieser Redaktion nun die ihrer Meinung nach zwölf besten für das Finale bestimmt. Sie finden sich in unserem Themenschwerpunkt "Erzähl mir was".
  • Die Onlineabstimmung: Unsere Leserinnen und Leser können dann vom 27. August bis 5. September 2025 online abstimmen , wer die ersten sechs Plätze des Wettbewerbs belegt.
  • Abstimmung unter: mannheimermorgen.de/erzaehlmirwas

Herr Treu lief zur Hochform auf: „Herr Tiefach, jetzt sage ich Ihnen mal was: Wir schaffen es doch noch nicht einmal, eine gute Organspende umzusetzen, da wir die körperliche Integrität eines Kadavers wichtiger finden als die Gesundheit lebender Menschen – so verquer sind unsere Moralvorstellungen. Und Sie wollen das Erbgut, das Aussehen, die Körper der Hälfte der Bevölkerung ändern? Ich muss gar nicht an Gentechnik- oder Schulmedizingegner erinnern, denn sobald auch nur der erste Modekonzern Bedenken gegenüber großen, starken Frauen anmeldet, wird kein gewählter Politiker und kein wählender Bürger auch nur einen Hauch guten Willens dafür zeigen. Ihr Vorschlag, Frauengene zu manipulieren, ist nur Wasser auf die Mühlen der Wissenschafts- und der Frauenhasser. Sie werden in die Geschichte eingehen, nicht als Vorreiter der Frauenrechte, sondern man wird Sie verspotten als ‚Damenschneider Frankenstein‘ oder ‚Edward mit den Genscherenhänden‘.“

Herr Turner schaute nachdenklich aus dem Fenster, als er zusammenfasste: „Man kann die Menschen nicht vom Guten überzeugen, also muss man sie zum Guten genmanipulieren, wovon man sie jedoch nicht überzeugen kann.“

Auch Herr Caster schien nachdenklich: „Menschen zur Gewaltlosigkeit zu verändern, könnte mehr Befürworter haben – doch biologisch wird es weitaus schwieriger sein.“

Herr Tiefach war sehr ernst, als er seine letzte Frage stellte: „Sie lehnen den Vorschlag also ab? Na gut. Aber schauen Sie sich mal um: Haben Sie schon gezählt, wie viele Frauen hier mitreden?“

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