Mit sanfter Stimme habe ich es versucht, nett, freundlich, flehend, entschieden, aber es spricht nicht.
Nicht einmal ihren Namen will sie mir verraten.
Aisha. Aisha Helac.
Sie nennt mir keine Buchstaben, sagt nicht, ob sie gerne Tee hätte oder Wasser, ob sie das Klassenzimmer mag, ob sie die Pause draußen verbringen möchte, ob sie malen möchte oder lieber schreiben oder nur gucken.
Sie sieht mich nur an, sieht dann wieder weg, senkt die Augen, macht den Vorhang zu, vergräbt ihr Kinn im Kragen der Jacke, die sie nur zugeknöpft hat, der Reißverschluss unter der Knopfreihe ist offen. Sie kaut an dem Verschluss, an dem kleinen Plastikteil, das die Zahnreihe oben abschließt. Der Stoff drum herum ist schon ganz durchnässt.
Aber sie spricht nicht.
Warum?, frage ich. Was soll ich mit ihr machen?
Ich bin doch gar keine richtige Lehrerin.
Der Schulleiter atmet hörbar ein und winkt mich zu sich.
Die Familie Helac ist zurück, flüstert er, sein Gesicht ist meinem ganz nah. Da muss ich Ihnen etwas dazu sagen. Kommen Sie doch später kurz in mein Büro.
Aus seinem Mund riecht es faulig.
Bald darauf sitzen wir in seinem Zimmer.
Anne Bastian
Anne Bastian, geboren 1988 in der Nähe von Aschaffenburg . Studierte in Würzburg Germanistik und Anglistik und fing aus Freude am Lesen an zu schreiben.
Versuchte sich in Lyrik, blieb bei Prosa, schreibt seither Kurzgeschichten, Novellen und (bisher unveröffentlichte) Romane .
Unterrichtete mehrere Jahre neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler in Gießen sowie Frankfurt. Sie studierte noch einmal Soziale Arbeit. Zog dann wieder in die Heimat und ist heute in einer Migrationsberatung tätig .
In ihrer Arbeit, im Alltag und der Gesellschaft begegnen ihr Themen, die sie im Schreiben verarbeitet : Liebe und Hass, Spaltung und Zusammenhalt, Macht und Mensch.
Die Mutter ist so groß wie ich, aber wiegt drei Zentner, sagt mir der Schulleiter, als sei das eine Erklärung. Auch er ist groß und schwer. Er sieht mich über die Brille hinweg an, sein Brillengestell bohrt sich in seine Schläfen, ich weiß nicht, ob ich lächeln oder ernst blicken soll, ich tue beides und kratze mich am Kopf, dabei juckt er gar nicht.
Der Geruch der Hyazinthe auf dem Schreibtisch steigt mir in die Nase und mir wird ein wenig schlecht. Sie ist weiß-rosa und blüht so kraftvoll, das passt nicht zum Winter. Ihre speckigen Blütenblätter wölben sich nach außen, geben den Blick auf ihr Inneres frei, auf das schwarze Loch. Auf hundert schwarze Löcher. Aus ihnen strömt dieser Geruch nach Klostein und macht mich schummrig.
Die Frau des Schulleiters ist Floristin. Sie kümmert sich um die Dekoration im Verwaltungstrakt.
Ich sehe seine großen Hände an, seine kräftigen Finger, die er ineinander verschlungen hat, ein Finger neben dem anderen, wie die Zahnreihen eines Reißverschlusses, öffnet, schließt, öffnet, schließt. Eine fleischfressende Pflanze, nur tausendmal stärker. Wenn er Florist wäre, er würde alle Blumen zerbrechen.
Aber er kann charmant sein.
Aus seinem Mund kommen dann wohl gewählte Worte.
Er weiß, dass ich jung bin und nur Aushilfslehrerin. Er kann mir alles erzählen.
Ich betrachte seine Zähne. Er lacht, sein Mund klafft auf wie ein schwarzes Loch.
Mein Herz klopft. Ich frage mich, ob man das Vibrieren meines Schals sehen kann, oder ob nur ich das sehe, so wie nur ich mein Herz klopfen höre, kawumm. Wie immer, wenn ich hier sitze. Ich kratze mich am Kopf, obwohl er nicht juckt, und vergrabe mein Kinn in meinem Schal.
Türen mussten wir verriegeln, bei dieser Frau, den Gang absperren, erzählt er. So ein Theater hat die gemacht. Und jetzt ist sie wieder da, die Familie Helac.
Das Kind sitzt draußen auf dem schwarzen Sofa. Hinter der Tür. Der Schulleiter hat die Tür zugemacht. Das macht er nur, wenn es etwas Wichtiges zu besprechen gibt. Oder Geheimes. Was das hier ist, weiß ich noch nicht.
Die Mutter scheint auch geistig behindert zu sein, und eine gewisse Konsanguinität kann man der Familie ja nicht absprechen, haben Sie sich die Zähne angeschaut? Und diese Augen, sagt er und lacht und blickt gleichzeitig ernst. Seine blauen Augen fixieren mich. Konsanguinität ist ein langes, schwieriges Wort, er spricht es aus, als sei es nichts, ein Zungenschnalzen.
Ich frage mich, was Konsanguinität bedeuten soll, nicke und lächle. Gemeinsames Blut. Denke, dass doch jede Familie gemeinsames Blut hat, also kann man mir eine gewisse Konsanguinität auch nicht absprechen.
Eine enorme Leibesfülle und eine gewisse Konsanguinität. Ich warte ab, ob daraus noch eine Erklärung wird.
Man darf sich nun fragen, warum die wieder da ist, nach vier Jahren, die Familie Helac, sagt der Schulleiter und blickt mich über die Brille hinweg an. Mein Herz hat sich beruhigt, aber ich weiche seinem Blick aus und sehe aus dem Fenster. Es ist kalt und die Sonne scheint. Auf den Fensterscheiben leuchten Tropfen aus Staub, Spuren des letzten Regens. Bald steht der Frühjahrsputz an.
Helac, das klingt doch wie ein kurdischer Name. Das sind ja nicht unbedingt die, auf die man in der Türkei jetzt gewartet hat. Wer weiß, was die da gemacht haben, sagt der Schulleiter und ich lächle. Ich weiß auch nicht, was sie die letzten vier Jahre in der Türkei gemacht haben. Was macht man in der Türkei mit einer Leibesfülle, einer gewissen Konsanguinität und einem kurdischen Namen?
Und wenn das Geld für vier Jahre gereicht hat, warum dann nicht länger? Wissen Sie, die werden schon ihre Leute gehabt haben dort. Die werden schon irgendwas gemacht haben. Das wird schon seinen Grund gehabt haben, dass die gegangen sind. Und dass die jetzt wieder hier sind.
Der Geruch der Hyazinthe steigt mit unerträglich in die Nase. Ich rutsche auf meinem Stuhl ganz nach hinten. Er macht mich schwindelig. Der Schulleiter rollt auf seinem Stuhl hin und her, schiebt seine Brille auf den fliehenden Haaransatz. Sein Körper steht immer unter Strom, ein Surren geht von ihm aus, wie das eines Generators. Mit seiner Energie lädt er den Raum auf. Ich kratze mich wieder am Kopf, obwohl er gar nicht juckt.
Die Familie Helac, mit der monströsen Mutter und der Konsanguinität und dem kurdischen Namen. Aisha sitzt draußen und lutscht an ihrem Reißverschluss, das weiß ich, auch wenn ich sie nicht sehen kann. So gut kennen wir uns schon.
Ich versuche, durch meinen Schal zu atmen, damit mir nicht übel wird von dem Hyazinthengeruch.
Sechs Kinder haben die, und alle haben irgendeine Einschränkung. Der Bruder zum Beispiel, das sieht man dem ja schon an, haben Sie ihn angesehen? Ich nicke und lächle.
Und der soll auf die normale Schule gehen. Er seufzt. Mir ist ja heiß und kalt geworden, als ich den Namen gelesen habe. Heiß und kalt. Die Familie Helac ist wieder da. Ausgerechnet die!
Ich sehe auf seine Hände, sie sind so groß, so übermenschlich groß, öffnen sich, schließen sich, öffnen, schließen, wie Eisenstäbe in einer Gefängnistür. Oder Stacheln, die aus Wänden kommen, in einem Computerspiel. Bereit, dich augenblicklich aufzuspießen. Ich nicke und lächle und schürze die Lippen und schaue ernst. Mmmmhmmm, sage ich.
Das wird schon seinen Grund gehabt haben, dass die zurückgekommen sind, und dass sie nicht mehr spricht, wer weiß. Da kann man nur Vermutungen anstellen, aber bei dieser Familie …
Er zieht die Augenbrauen in die Stirn, bis sie fast an der Scheitelkrone angekommen sind. Ich weiß, dass er schockiert aussehen will. Es sind die Mundwinkel, die zucken.
Da will man nicht wissen, was das Kind erlebt hat, fährt er fort. Vielleicht sogar vom eigenen Vater. Er reißt die Augen über seiner Brille auf und verknotet die Finger nun ineinander, als wolle er darin eine Nuss zerdrücken. Ich bin mir sicher, dass er stark genug ist. Ich schüttle mich.
Ja, das will man sich gar nicht ausmalen, was das Kind erlebt hat, aber so ist das eben, so etwas passiert.
So etwas passiert.
Dass die Mutter übergewichtig ist und die Familie konsanguin und einen kurdischen Namen trägt und der Bruder Geistige Entwicklung hat und sie alle einen Grund, um aus der Türkei zurückzukommen. Kein Wunder, dass das Mädchen nicht spricht. Wirklich kein Wunder.
Erzähl mir was, 6. Auflage
- Die Schlussrunde : Unter den rund 50 Geschichten, die Leserinnen und Leser zum Thema „Macht und Mensch“ eingereicht hatten, hat die Jury dieser Redaktion nun die ihrer Meinung nach zwölf besten für das Finale bestimmt. Sie finden sich in unserem Themenschwerpunkt "Erzähl mir was".
- Die Onlineabstimmung: Unsere Leserinnen und Leser können dann vom 27. August bis 5. September 2025 online abstimmen , wer die ersten sechs Plätze des Wettbewerbs belegt.
- Abstimmung unter: mannheimermorgen.de/erzaehlmirwas
Aber ich weiß immer noch nicht, was ich mit ihr machen soll. Muss sie nicht auf eine andere Schule? Braucht sie keine Betreuung? Ich kann das nicht.
Ich bin doch gar keine richtige Lehrerin.
Lassen Sie sie etwas malen. Sie stört ja nicht, sagt er. Sie spricht ja nicht. Da haben Sie Glück. Der Schulleiter lacht.
Ich nicke und lächle und hoffe nur, nicht von diesen Händen zerquetscht zu werden. Draußen sitzt das Mädchen und nuckelt an seinem Reißverschluss.
Ich stehe auf und sage danke und gehe aus der Tür, meine Beine sind ganz weich. Draußen sitzt sie noch und sieht mich nicht an, sie sieht zu Boden. Ich will sie anlächeln, doch sie schaut weg. Und ich kann sie verstehen.
Und ich denke mir, kein Wunder, dass du nicht sprichst, Mädchen.
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