München. Timo Boll ist kein Dampfplauderer. Seine Aussagen sind stets reflektiert und wohl überlegt. Und so schreckte der 41-jährige Odenwälder die Tischtennis-Szene vor dem EM-Start etwas auf. „Es ist ja nicht von der Hand zu weisen: München wird sicherlich einer der letzten Auftritte bei einer EM oder WM vor meinen heimischen Fans in meiner Karriere“, erklärte Boll. Denkt er also an sein Karriereende?
Mit 41 Jahren würde das nicht verwundern. Wer nun aber befürchtet, der WM-Dritte würde seinen Schläger eher heute als morgen an den Nagel hängen, sollte Bolls Worte noch einmal näher beleuchten. Er sagte, München sei „einer der letzten Auftritte bei einer EM oder WM“. Er sagte nicht, dass es sein letzter sei. Und er ergänzte „vor meinen heimischen Fans“. Es ist also gut möglich, nein wahrscheinlich, dass er noch einige Jahre dranhängen wird. Selbst seinen siebten Olympiastart 2024 in Paris schließt er nicht aus, wie er in einem Interview verraten hat: „Es hört sich verrückt an, aber ich werde es versuchen. Wenn ich immer noch in der Form bin, um zum Team zu gehören, warum nicht?“
Taktischer Kniff bringt Wende
Zum Auftakt der EM-Einzelwettbewerbe zeigte Boll am Mittwoch jedenfalls, dass er die Zeit zwar nicht zurückdrehen kann, dass es in der einen oder anderen Situation jedoch nicht schadet, über jahrelange Erfahrung zu verfügen. Gegen den polnischen Weltranglisten-152. Samuel Kulczycki lag er mit 1:3 Sätzen zurück, 3:7 hieß es im fünften Durchgang aus seiner Sicht. Boll stand mit dem Rücken zur Wand, er rannte aber nicht blind ins Verderben, sondern besann sich und schaffte mit einem taktischen Kniff die Wende. „Wer bei dem Rückstand noch an mich glaubt, sollte kein Glücksspiel betreiben. Ich bin aber auf die Idee gekommen, mit meiner Rückhand zum Return zu gehen“, erklärte Boll, der nicht mehr aufzuhalten war.
Aber klar: Der Bundesliga-Spieler von Borussia Düsseldorf profitierte nicht nur von seiner eigenen Leistungssteigerung, sondern auch davon, dass der 20-jährige Kulczycki immer mehr nachließ. „Der fünfte Satz hat mich das Spiel gekostet“, sagte der Pole. Boll fühlte sich an die Anfänge seiner eigenen Karriere erinnert, als er sagte: „Für so einen jungen Spieler ist es schwer, so ein Match zuzumachen. Der Arm wird dann immer schwerer.“
In der Runde der besten 32 trifft Boll am Freitagvormittag auf Lubomir Jancarik aus Tschechien, bei einem Erfolg steht nachmittags das Achtelfinale auf dem Turnierplan. „Ich hoffe, dass ich noch eine Schippe drauflegen kann“, betonte der Mann, der mit seiner eindrucksvollen Karriere einer ganzen Sportart einen immensen Schub gegeben hat.
Hatten früher tischtennisbegeisterte Kinder Poster von den 1989er-Doppel-Weltmeistern Jörg Roßkopf und Steffen Fetzner an der Wand hängen, sind es heute Bilder von Boll. Der 41-Jährige weiß aber nur zu gut, dass er nicht jünger wird. In den vergangenen Jahren hatte ihn immer öfter der eigene Körper im Stich gelassen. Waren es zunächst Rückenschmerzen, die er mittlerweile in den Griff bekommen hat, trat er bei der WM vor einem Jahr in Houston (USA) mit einer Bauchmuskelmuskelzerrung, von der er sich nicht aufholen ließ und Bronze gewann.
Diesmal stand sein EM-Start lange infrage, die Nachwirkungen eines Rippenbruchs machten Boll sehr zu schaffen. Erst vor einer Woche gab er grünes Licht, eine gezielte Vorbereitung sieht aber anders aus. Er sei zuletzt mehr auf dem Ergometer gesessen als am Tisch gestanden, betonte er: „Für ein oder zwei Spiele am Tag sollte es aber noch reichen.“
Die Konkurrenz ist gut beraten, den in Erbach geborenen und in Höchst aufgewachsenen Odenwälder trotz seines schleppenden Auftakts nicht zu unterschätzen. Boll hat in seiner Karriere schon oft gezeigt, dass er im Stile eines angeschlagenen Boxers sehr gefährlich sein kann. Er selbst fühlte sich an die EM vor vier Jahren in Alicante erinnert, als wenig bis gar nicht für ihn sprach. „Auch damals bin ich nach einer Verletzung angereist und stand in Runde eins gegen einen jungen Spieler vor dem Aus – später habe ich Spanien als Europameister verlassen. Aber bis dahin habe ich hier noch einen harten Weg vor mir.“
Und nach der EM? Boll wird noch den einen oder anderen großen Sieg feiern. Nach dem Ende seiner Spielerkarriere könnte sich das deutsche Tischtennis nichts mehr wünschen als einen Trainer Boll. Im Podcast „Einfach mal luppen“ von Fußball-Weltmeister Toni Kroos hatte er Verbesserungspotenzial bei der Trainer-Ausbildung ausgemacht. „Generell wird der Trainer-Job bei uns nicht so gewürdigt wie in Asien. Wir müssen gute Übungsleiter ausbilden. Es geht nicht mehr nur über das Ehrenamt, sondern dafür muss man schon ein paar Euro organisieren.“
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