Papa und Sohn im Wasser. Der Zweijährige trägt Schwimmflügel, hinter dem Buben der achtsame Vater mit ausgebreiteten Armen. Eine Szene, die Leben symbolisiert. Im Spanien-Urlaub 1970 entsteht die Aufnahme von Anton und Alfred Fliegerbauer.
Dass dieses Foto nicht mehr einzig im privaten Familienalbum des Polizisten aus dem Niederbayerischen klebt, sondern seit 2017 hinter Sicherheitsglas in der Medienwand am Erinnerungsort „Einschnitt“ in einen der Hügel im nördlichen Teil des Olympiaparks in München integriert ist, hat einen traurigen, brutalen und politischen Hintergrund.
Befreiungsversuch scheitert
Am Morgen des 5. September verübt ein palästinensisches Terrorkommando der Organisation Schwarzer September während der Olympischen Spiele 1972 in München einen Anschlag auf die israelische Mannschaft. Beim Überfall auf deren Unterkunft in der Connollystraße im Olympischen Dorf töten die Attentäter zwei Athleten und bringen neun weitere Sportler in ihre Gewalt.
In der darauffolgenden Nacht scheitert ein von den deutschen Behörden unternommener Befreiungsversuch auf dem Fliegerhorst Fürstenfeldbruck: Alle Israelis und der deutsche Polizist Anton Fliegerbauer werden von den Terroristen erschossen. Fünf der acht Attentäter kommen ums Leben.
Haarsträubende Fehler der Politik
„Es war ein Schockerlebnis. Um es ganz primitiv auszudrücken, es war eine bodenlose Gemeinheit, einfach furchtbar. Es hat uns alle aus den Fugen gerissen“, sagt Gudrun Mountain. Während der Spiele 1972 arbeitet sie als Chefhostess und dolmetscht.
Aus ihren Unterlagen zieht die heute 84-Jährige Steno-Aufzeichnungen aus einer der Pressekonferenzen mit dem damaligen Polizeipräsidenten Manfred Schreiber. Darin offenbaren sich haarsträubende Fehler der Politik. „Man hat sich sehr naiv dem Gefühl hingegeben, wir sind alle so fröhlich, und kein Mensch wird sich trauen, das zu zerstören. Genau das Gegenteil ist passiert“, sagt Mountain.
Anton Fliegerbauer ist makabererweise der Bruder einer Bekannten von Mountain. „Da bekommt dieses grausame Attentat auch noch eine persönliche Dimension“, sagt sie. Bis heute erlebt Mountain bei Führungen die extremen Emotionen der Besucher aus aller Welt. Besonders jene der israelischen Gäste.
Gänsehautmomente. Kopfschütteln. Unverständnis. Die persönliche Gefühlswelt, selbst bei Generationen, die das Drama nicht verfolgt haben, gerät durcheinander bei denen, die am „Einschnitt“ – dem Erinnerungsort des Attentats – stehen und sich an den 5. September zurückbeamen.
Dunkle Momente der Polizeigeschichte
Wer sich Zeit nimmt, taucht dank der Videos, Fotos und Original-TV-Ausschnitte schnell und aus unterschiedlichen Perspektiven in die dramatischen Stunden voller Ungewissheit und Angst ein, an deren Ende ein katastrophal gescheiterter Befreiungsversuch steht. Gepaart mit dunklen Momenten der Polizeigeschichte, unendlichem Leid und hilflosen Politikern.
Besonders nahe gehen eben jene Privataufnahmen, die die Familien der Opfer beigetragen haben. Die Dokumente beleuchten die politische Bedeutung der heiteren Spiele von München samt Vorgeschichte des Terroranschlags im Kontext der israelisch-arabisch-deutschen Beziehungen – und thematisieren ein wenig auch die deutsche Verantwortung für das klägliche Scheitern des Befreiungsversuches.
Kritik an Gedenkstein
Nicht zufällig bündelt der Ort die realen und symbolischen Sichtachsen zwischen den Sportstätten, dem Ort des Attentats in der Connollystraße 31 und dem Fliegerhorst in Fürstenfeldbruck, aber auch dem schon existierenden Gedenkstein am Übergang zwischen Olympiapark und dem Olympischen Dorf.
Die Kritik an diesem kaum auffallenden Ort ist zu Recht massiv gewesen. Weder die Stelle noch die Worte darauf sind den grausamen Geschehnissen würdig. Keinerlei Informationen, nicht einmal erklärende Worte in englischer Sprache.
Schnell kommt Verständnis für die verbitterten und enttäuschten Familien der Opfer auf, die sehr lange um eine angemessene Entschädigungszahlung durch die Bundesrepublik kämpfen mussten. Erst an diesem Mittwoch wurde eine Einigung erzielt. Die Vereinbarung enthält nicht nur materielle und immaterielle Anerkennungsleistungen.
Entschädigungszahlungen nur ein „Trinkgeld“
„Ebenso wichtig ist den Angehörigen die Aufarbeitung des damaligen Geschehens – unter Offenlegung aller Quellen“, sagte der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP). Der Jurist hatte zusammen mit Kollegen einer Düsseldorfer Anwaltskanzlei die Hinterbliebenen in den Verhandlungen vertreten.
Ankie Spitzer, Ehefrau des bei dem Massaker in Fürstenfeldbruck ums Leben gekommenen Fechttrainers André Spitzer, ist so etwas wie die Sprecherin der Hinterbliebenen. Eine nimmermüde Kämpfernatur auf der Suche nach Antworten. Die einst von der Bundesrepublik angebotenen zehn Millionen Euro Entschädigung nannte die 76-jährige gebürtige Niederländerin vor einiger Zeit in der „Süddeutschen Zeitung“ ein „Trinkgeld“.
Nun sollen es etwa 28 Millionen Euro sein. Doch Spitzer sieht auch das Internationale Olympische Komitee (IOC) in der Pflicht. Sie und andere Hinterbliebene fordern ein Gedenken an die Opfer während der olympischen Eröffnungszeremonien. Erst 2021 in Tokio erlaubte IOC-Präsident Thomas Bach eine Schweigeminute.
Ringer Tsabary konnte Terroristen entkommen
Ortswechsel: Eine Handvoll Menschen steht vor dem Unglücksort, der Connollystraße 31 im Olympischen Dorf. Die Rollläden im Erdgeschoss sind halb heruntergelassen, auf die schlicht gehaltenen Gedenktafel haben einige Steine gelegt. Auf einem Hinweisschild unweit davon ist die Bitte notiert, doch die Privatsphäre zu achten. Das Haus wird inzwischen von der Max-Planck-Gesellschaft als Unterkunft für internationale Wissenschaftler genutzt.
Für länger ist hier niemand mehr eingezogen, nachdem die palästinensischen Terroristen am 5. September Geiseln genommen und sie einen Tag lang im Appartement 3 gefangen gehalten hatten. Die Sportler mussten damals zusehen, wie ihr schwer verletzter Teamkollege, der Gewichtheber Josef Romano, auf dem Boden des verwüsteten Zimmers verblutete. Tags darauf hätte er nach Israel fliegen sollen. Für eine Knieoperation, weil er sich im olympischen Wettbewerb einen Bänderriss zugezogen hatte.
Auch der Ringer Gad Tsabary war zunächst eine Geisel, nutzte aber eine Unaufmerksamkeit der Attentäter und floh. Er ist einer von zehn Israelis, die sich retteten – wie auch die im gleichen Haus untergebrachten Athleten aus Hongkong. Aufgeweckt von Schüssen, brachten sie sich über den Balkon in Sicherheit.
Attentäter in Lybien wie Helden gefeiert
In der Münchner Innenstadt gab es schnell Proteste. Die Menschen forderten einen Abbruch der Spiele. Das IOC unterbrach die Wettkämpfe, entschied jedoch, dass diese unabhängig vom Ausgang der Geiselnahme am nächsten Tag fortgesetzt werden. In den internationalen Medien verbreitete sich zunächst die Nachricht, dass alle Geiseln befreit wurden.
Doch um 2.30 Uhr dementierte der Krisenstab um Polizeipräsident Schreiber dies in einer Pressekonferenz. Das Entsetzen war riesig, der US-amerikanische Sender ABC brach sogar unmittelbar seine Livesendung ab.
Die Särge mit den fünf getöteten Terroristen wurden im Auftrag der libyschen Regierung nach Tripolis ausgeflogen. Die drei überlebenden Attentäter wurden am 29. Oktober 1972 mittels einer Flugzeugentführung freigepresst und von den Libyern wie Helden gefeiert. In der Folge ist das Attentat nie Gegenstand eines Gerichtsverfahrens.
Die Wut der trauernden Familien wird auf vielfältige Weise dargestellt. Eine Geschichte, die besonders aufwühlt: Zeev Friedman, die größte israelische Medaillenhoffnung im Gewichtheben, schreibt wenige Tage vor der Geiselnahme seinen Eltern eine Karte. Darauf steht: „Wir sehen uns bald zu Hause.“ Die Karte erreicht Shlomo Friedmann und seine Frau erst nach dem Tod ihres Sohnes.
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