„Ein Teil des Aufbruchs von Olympia 1972 würde uns heute guttun“

Die Olympischen Spielen in München 1972 begannen vor genau 50 Jahren und bleiben in vielerlei Hinsicht in Erinnerung. Roman Deininger hat darüber mit Uwe Ritzer ein Buch mit dem Titel „Die Spiele des Jahrhunderts“ geschrieben. Im Interview spricht er über

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Der deutsche Kanute Detlef Lewe führt die deutsche Mannschaft als Fahnenträger vor 50 Jahren ins Olympiastadion. © imago

Herr Deininger, warum sind die Olympischen Spiele 1972 für Sie die „Spiele des Jahrhunderts“?

Roman Deininger: München 1972 war viel mehr als ein rauschendes Sportfest. Olympia war die Bühne, auf der die junge Bundesrepublik aus dem langen Schatten der Nazizeit trat. Das neue, demokratische Deutschland präsentierte sich der Welt. Dieser Fortschrittsgeist hat alles durchdrungen – das federleichte Design von Otl Aicher genau wie die atemraubende Stadionarchitektur von Günter Behnisch. Die Macher der Spiele sind dafür große Wagnisse eingegangen, politisch und finanziell. Der leistungsfähigste Bundeswehr-Rechner konnte damals die Statik des Dachs nicht berechnen. Wir haben Hans-Jochen Vogel, der als Oberbürgermeister die Spiele nach München geholt hatte, kurz vor seinem Tod gefragt: Warum all dieses Risiko?

Was hat er geantwortet?

Deininger: „Die Menschheit darf nicht an Nützlichkeit ersticken.“ Das ist die eine Seite, die heiteren Spiele.

6. September: „The games must go on!“ (Die Spiele müssen weitergehen), sagt IOC-Präsident Avery Brundage bei der Trauerfeier. © dpa

Und die andere Seite...

Deininger: ...ist der brutale Anschlag auf die israelischen Sportler, den die ganze Welt live im Fernsehen mitansehen konnte. In seiner globalen Wirkmächtigkeit ist das Attentat nur vergleichbar mit dem 11. September 2001. Niemals lagen bei Olympia höchste Höhen und tiefste Tiefen so nah beieinander wie 1972. Dieser Kontrast hat sich eingebrannt. Es waren im Guten wie im Bösen die Spiele des Jahrhunderts.

Welcher Impuls löste bei Ihnen das Interesse an München 72 aus und motivierte Sie, zusammen mit Ihrem Kollegen Uwe Ritzer das Buch zu schreiben?

Deininger: Das Bemerkenswerte ist ja, dass viele „Nachgeborene“ Bilder dieser Spiele im Kopf haben. So geht es mir auch. Meine Eltern hatten und haben einen Bildband von Harry Valérien im Schrank, in dem habe ich als Kind gern geblättert. Da hat sich mir zum Beispiel Ulrike Meyfarth eingeprägt, die strahlend aus der Hochsprungmatte hüpft. München 72 hat es ins kollektive Bewusstsein der Menschen geschafft, zumindest ein, zwei weitere Generationen lang. Und in München ist das Erbe der Spiele ja sowieso bis heute greifbar. Man schaue sich nur den fantastischen Olympiapark an, der gerade im Sommer voller Leben ist. Außerdem haben Uwe Ritzer und ich zu Beginn unserer Recherchen schnell gemerkt, wie viel Zeitgeschichte und wie viel Aufbruch sich in diesen Spielen ballt. Überall haben sich damals kleine Fenster in die Zukunft geöffnet. BMW hat etwa sein erstes E-Auto entwickelt, als Begleitfahrzeug für den Marathon.

4. September: Ulrike Meyfarth gewinnt als 16-Jährige Hochsprung-Gold. © picture alliance/dpa

Das gilt ja auch für die Einordnung der Spiele in die Zeit davor und danach. München 1972 waren Spiele, die der Olympischen Bewegung die Wege aus manchen Sackgassen aufgezeigt haben.

Deininger: Absolut. Es waren grüne Spiele und Spiele der kurzen Wege, eine Absage an den Gigantismus. Genau die Bescheidenheit, die wir uns auch heute wieder für Olympia wünschen. München belebte die olympischen Kernideen. Es waren harmonische, lässige, dem Menschen zugewandte Spiele. Die Gäste waren verliebt in ihre Gastgeber – und umgekehrt. Bis zum Attentat. München hat übrigens auch bewiesen, dass solche Spiele durchaus finanzierbar sind. Das Projekt wuchtete die Stadt damals in die Moderne. Vor und nach 1972 steckte Olympia in der Krise, München bot die Chance zur Neubesinnung. Sie wurde nur leider nicht genutzt.

Die positiven Erinnerungen von Sportlern, Zuschauern und Journalisten reichen in Deutschland nicht aus, um Begeisterung für die erneute Ausrichtung der Spiele zu säen. War München 1972 das letzte Olympiafest in Deutschland?

Deininger: Es sieht fast danach aus. Die Münchnerinnen und Münchner haben sich zuletzt in zwei Bürgerentscheiden gegen Winterspiele ausgesprochen. Und natürlich gab es dafür gute Gründe: Das finanzielle Risiko ist groß, die Fesselverträge des IOC machen es fast unmöglich, den Spielen ihren eigenen Geist zu geben. Sorgen um die Nachhaltigkeit bleiben. Aber fest steht auch: Die olympische Idee hat immer noch ihren Zauber – sie ist beim IOC derzeit leider nur nicht in guten Händen. Wir hatten einige Lesungen mit Ulrike Meyfarth und Klaus Wolfermann (Olympiasieger im Speerwurf: Anm. d. Red.): Wenn die beiden von neuen Spielen in Deutschland schwärmten, gab es immer große Zustimmung im Saal. Als kürzlich IOC-Präsident Thomas Bach bei einem Jubiläumsabend in der Olympiahalle über die Idee sprach, gab es großes Raunen, nur matten Beifall und sogar ein paar Buhrufe.

5. September: Attentäter ermorden israelische Sportler. © picture alliance/dpa

Was macht Hoffnung?

Deininger: Dass die nächsten drei Sommerspiele in Demokratien stattfinden. Man sollte Olympia nicht den Despoten überlassen. Jetzt mal ganz optimistisch: Das IOC betrachtet Olympia als Produkt, und dieses Produkt hat in den vergangenen Jahren einen schweren Imageschaden genommen. Vielleicht erzwingt das ja Veränderungen. Ein Hauch des Aufbruchs, den Olympia 1972 für Deutschland bedeutete, würde uns sicher auch heute guttun.

Teil der Geschichte und der Erinnerung ist das Attentat und die Ermordung von elf israelischen Sportlern durch palästinensische Terroristen. Wie prägt der Anschlag Wahrnehmung und Erinnerung?

Deininger: Die warme Erinnerung an die heiteren Spiele hat trotz des Anschlags die Zeit überdauert. Es ist auch richtig, diese Erinnerung zu pflegen, denn in den heiteren Spielen drückte sich der politische und gesellschaftliche Wille aus, die junge Demokratie auf deutschem Boden zum Erfolg zu führen. Aber der Schrecken des Attentats kann und darf niemals vergessen werden. 27 Jahre nach dem Holocaust wurden elf jüdische Menschen auf deutschem Boden ermordet – vor den Augen der Welt und bei völligem Versagen der deutschen Sicherheitskräfte. Das neue Deutschland wurde vom ganz alten eingeholt. Vielleicht die dunkelste Stunde in der Geschichte der Bundesrepublik.

Roman Deininger

  • Roman Deininger hat mit Uwe Ritzer das Buch „Die Spiele des Jahrhunderts“ geschrieben.
  • Die beiden Reporter sind zwar seit ihrer Jugend sportinteressiert, haben aber nie als Sportjournalisten gearbeitet.
  • Deininger (Jahrgang 1978) ist Chefreporter der Süddeutschen Zeitung, promovierte über die Zusammenhänge von Politik und Religion in den USA und war lange politischer Reporter.

Die deutschen Behörden haben damals versagt: Vorher wurden Warnungen ignoriert, Terrorszenarien nicht durchgespielt, Sicherheitsmaßnahmen gelockert. Niemand war ausreichend auf ein Attentat vorbereitet, der Einsatz zur Befreiung der Geiseln war ein Desaster.

Deininger: München 1972 sollte ganz anders sein als Berlin 1936. Die Polizisten trugen azurblaue Sakkos und nur selten Waffen. Die Olympia-Macher wollten Freiheit und Offenheit. Sie waren völlig geblendet von dieser Idee. Sie haben sich nicht vorstellen können, dass Terroristen den olympischen Frieden stören. Aus bester Absicht waren sie sträflich naiv. Diese unfassbare Arglosigkeit hat dann zwölf unschuldigen Menschen das Leben gekostet. Fast noch schlimmer ist aber die Tatsache, dass die Verantwortlichen auch nach dem Anschlag nicht zu Selbstkritik oder gar Reue fähig waren. Niemand ist zurückgetreten, es gab keinen Untersuchungsausschuss. Es hat 45 Jahre gedauert, bis 2017 ein würdiger Erinnerungsort im Olympiapark eröffnet wurde und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier deutsche Verantwortung für das Debakel andeutete. An der Mitschuld der deutschen Behörden besteht kein Zweifel.

Inwiefern?

Deininger: Man hat konkrete Warnhinweise vor dem Anschlag einfach ignoriert, man war auf eine Geiselnahme überhaupt nicht vorbereitet. Und in den Jahrzehnten nach den Spielen hat man die Hinterbliebenen schäbig behandelt. Man hat sie angelogen und behauptet, es gäbe keine geheimen oder gesperrten Akten zum Attentat. Aber es gab sie. Und einige gibt es bis heute.

„The games must go on“, formulierte IOC-Präsident Avery Brundage seine einsame Entscheidung. Nach einem Trauertag wurde das olympische Programm fortgesetzt. Die Spiele endeten einen Tag später als geplant. Das alles war 1972 sehr umstritten. Wie sehen Sie das in der historischen Rückschau?

Deininger: Von heute aus betrachtet mutet das zynisch an. Aus der damaligen Zeit heraus ist es schon etwas verständlicher. Wir haben für unser Buch mit zahlreichen Athleten gesprochen, die nach dem Anschlag zuerst alles hinwerfen wollten. Manche sind ja tatsächlich abgereist, auch zwei Deutsche. Aber viele andere hat dann doch der Ehrgeiz gepackt. Olympia war ja ihr großes Karriere- und Lebensziel. Sie wollten weitermachen. Die Entscheidung lag faktisch ganz in der Hand von Brundage, der das IOC ja mindestens halbdiktatorisch führte. Den berühmten Satz hat er zunächst hinter den Kulissen ausgesprochen, dann im Stadion. Aber auch die deutschen Olympia-Macher waren für eine Fortsetzung.

Warum?

Deininger: Münchens OB Hans-Jochen Vogel hielt einen Abbruch für ein fatales Signal, weil damit jede Großveranstaltung erpressbar geworden wäre. Und Willi Daume, der Präsident des deutschen NOK und IOC-Mitglied, fürchtete einen grundlegenden Schaden der olympischen Bewegung. Man kann heute darüber streiten, ob die Spiele hätten weitergehen sollen. Pietätlos war auf jeden Fall, wie sie weitergingen: Dem IOC konnte es gar nicht schnell genug gehen. Direkt nach der Trauerfeier wurde das erste Handballspiel angepfiffen, als wäre nichts gewesen.

Zum Abschluss die Frage an Sie als „Nachgeborenen“: Welches Ereignis der Olympischen Spiele 1972 würden Sie für eine Zeitreise aussuchen?

Deininger: Das ist schwer. Ich bekomme immer Gänsehaut, wenn Ulrike Meyfarth von ihrem Hochsprung-Gold erzählt – wie man vor ihren Sprüngen im Stadion eine Stecknadel fallen hören konnte. Das Hockeyfinale zwischen Deutschland und Pakistan war ein epischer Kampf. Aber am Ende würde ich doch zur Eröffnungsfeier reisen. Da wurde die tänzerische Leichtigkeit zelebriert, die dann die heiteren Spiele prägen sollte – bis zu jenem schrecklichen 5. September.

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