Mannheim. Stefan Kretzschmar ist der populärste Handballer, den es jemals in Deutschland gab. Im Interview mit dieser Redaktion zweifelt der 48-Jährige an der totalen Begeisterung manch eines Spielers für die Nationalmannschaft und verrät, warum er bei den Füchsen Berlin als Sportvorstand keinen Schreibtisch hat und weshalb er froh ist, jetzt kein Profi mehr zu sein.
Herr Kretzschmar, Andy Schmid von den Rhein-Neckar Löwen hat zuletzt seinen Unmut über den teils respektlosen Umgang mit Spielern in den sozialen Netzwerken bekundet. Sind Sie froh, dass es nach Ihrem folgenschweren Fehlwurf im Viertelfinale gegen Spanien bei Olympia 2000 in Sydney noch kein Facebook gab?
Stefan Kretzschmar (lacht): Eine gute Frage. Ich bin grundsätzlich froh, in den 90er Jahren gespielt zu haben, weil es da noch keine sozialen Netzwerke gab. Denn mit meiner Art und Weise des Lebens wäre das schwierig geworden, wenn es das gegeben hätte. Wahrscheinlich wäre es sogar unmöglich gewesen, mein Leben so zu interpretieren, wie ich es interpretiert habe. Ich glaube: Hätte es damals schon soziale Netzwerke gegeben, wäre ich vermutlich mit all meinen Aussagen vorsichtiger umgegangen.
Prominente Eltern und große Erfolge
- Stefan Kretzschmar wurde am 17. Februar 1973 in Leipzig geboren. Sein Vater Peter Kretzschmar war DDR-Nationalspieler. Seine Mutter Waltraud trug 217 Mal das DDR-Trikot und wurde 1971, 1975 und 1978 Weltmeisterin sowie 1976 Olympiazweite.
- In der Jugend spielte Kretzschmar für den SC Dynamo Berlin, es folgten die Stationen SV Blau-Weiß Spandau (1991-1993), VfL Gummersbach (1993-1996) und SC Magdeburg (1996-2007). Mit den Magdeburgern gewann der einstige Weltklasse-Linksaußen die deutsche Meisterschaft (2001), die Champions League (2002) und dreimal den EHF-Pokal (1999, 2001, 2007).
- Kretzschmar bestritt 218 Länderspiele und erzielte 821 Tore. Er gewann mit der deutschen Auswahl EM-Silber (2002), WM-Silber (2003) und Olympia-Silber (2004).
- Seit September 2019 ist der 48-Jährige Sportvorstand der Füchse Berlin. Außerdem arbeitet er seit vielen Jahren als Fernsehexperte. Erst bei Sport1, dann bei Sky.
Warum?
Kretzschmar: Ich mache keinen Hehl daraus, dass mir die öffentliche Meinung über mich immer wichtig war. Kolumnen, Interviews, Zeitungsartikel. Ich habe alles gelesen. Und ich hätte dann natürlich auch die sozialen Netzwerke verfolgt. Ich war einfach kein Typ, der gesagt hat: Was da über mich erzählt oder geschrieben wird, ist mir egal oder interessiert mich nicht. In dem Punkt stand ich nicht über den Dingen. Ich wollte wissen, was über mich berichtet und wie über mich gedacht wird. In der heutigen Zeit wäre das schwierig.
Und was halten Sie von der heutigen Zeit mit all ihren Begleiterscheinungen?
Kretzschmar: Ich finde die Entwicklung beunruhigend, die Verrohung der Sitten ist geradezu beängstigend. Deswegen kann ich auch jeden Sportler verstehen, der sich aus den sozialen Netzwerken fernhält oder der - so wie bei Andy Schmid - auch einfach mal die Schnauze voll hat und Klartext redet.
Oft heißt es dann: Der ist Profi, der verdient gut, der soll sich nicht beschweren.
Kretzschmar: Fans sind mit ihrem Verein emotional verbunden. Und sie sind enttäuscht, wenn es sportlich nicht läuft. Deswegen dürfen sie Kritik äußern. Andersherum muss jedem Profisportler klar sein, dass zu diesem Geschäft nicht nur Annehmlichkeiten gehören und man sich nicht nur feiern lassen kann, wenn es super läuft. Es gibt auch Phasen, in denen man einfach mal etwas aushalten muss. Aber: Die Grenze ist überschritten, wenn es unter die Gürtellinie geht, wenn es verletzend und persönlich wird, wenn die sachlichen Argumente fehlen, wenn so ein Blödsinn kommt wie der Vorwurf der Arbeitsverweigerung oder des fehlenden Charakters. Das gab und gibt es nicht im Handball. Das weiß ich aus eigener Erfahrung.
Die Füchse Berlin stemmen beachtliche Transfers, seitdem Sie dort sind. Was ist das Geheimnis Ihrer Personalplanung?
Kretzschmar: Finanziell spielen wir nicht in einer Liga mit dem THW Kiel, der SG Flensburg-Handewitt und der MT Melsungen. Deswegen gilt für uns: Wir können uns keinen Sander Sagosen leisten, sehr wohl aber Entwicklungsprozesse bei anderen Spielern voraussehen. Und bei diesen Profis müssen wir dann überzeugender sein. Der Hauptstadt-Faktor Berlin hilft sicherlich, wenn es um Lebensqualität geht. Aber das ist nicht alles: Wenn ich mit Spielern spreche, muss ich ihnen eine Vision erzählen können, wo der Verein hinwill. Und diese Version muss realistisch sein.
Gibt es auch den Kretzschmar-Faktor?
Kretzschmar: Ich würde lügen, wenn ich sage, mein Name hilft nicht. Ich bin ein wenig bekannt und es gab bislang auch keinen Spieler, der sich nicht mit mir treffen wollte. Natürlich hat nicht jeder Transfer geklappt. Aber in diesen Fällen geht es darum, ein, zwei, drei Spieler auf der Liste zu haben, die für eine bestimmte Position infrage kommen.
Bis heute haben Sie keinen Schreibtisch in der Geschäftsstelle. Warum?
Kretzschmar: Ich benötige dort kein Büro, um meine Zugehörigkeit zum Club zu demonstrieren. Und gebraucht werde ich in der Geschäftsstelle auch nicht, denn mit dem Marketing muss ich nichts absprechen. Ich bin in der Trainingshalle und tausche mich dort mit den Jungs aus. Und wenn mal ein längeres Gespräch ansteht, lade ich den Spieler zu mir nach Hause ein, wir trinken einen Kaffee und essen ein Stück Kuchen. Das sorgt für eine persönlichere Atmosphäre und schafft mehr Vertrauen. Ich fand das schon als Spieler besser, sich zum Essen zu treffen. Auf die Geschäftsstelle bin ich nie gerne gegangen.
In der Bundesliga hat sich das gewohnte Tabellenbild geändert. Nicht Flensburg und auch nicht Kiel ist Erster, sondern der SC Magdeburg. Zufall?
Kretzschmar: Nein. Der SC Magdeburg wird die nächsten Jahre immer um die Meisterschaft spielen. Das steht für mich fest. Das Fundament ist sensationell und die jetzige Entwicklung ist weder ein Zufall noch basiert sie auf Glück. Der Erfolg ist keine Eintagsfliege. Dieses Niveau wird die Mannschaft die nächsten Jahre halten können, weil auch beim SCM Personalfragen vorausschauend beantwortet werden und die Qualität nicht abnimmt.
Zwischen den Top-Vier und dem Rest der Liga klafft eine riesige Lücke. Hat sich dieses Quartett mit Kiel, Flensburg, Magdeburg und Berlin nicht nur jetzt, sondern für die nächsten Jahre abgesetzt?
Kretzschmar: Ich glaube, es wird noch enger zugehen. In der Zukunft werden sechs, sieben Teams die Möglichkeit auf die Meisterschaft haben. Mal hat dann die eine Mannschaft eine schlechtere Saison, mal eine andere. Klar, Kiel und Flensburg stehen immer ein wenig über allen anderen. Denn der THW ist eine der größten Marken im Welt-Handball und wird stets die Chance haben, die besten Spieler zu bekommen. Flensburg genießt den Standort-Vorteil mit der Nähe zur dänischen Grenze. Es ist wirklich unfassbar, wie viele gute Spieler sich in der dänischen Liga tummeln. Aber was das Budget angeht, ist Melsungen schon in die Dimension dieser zwei Clubs vorgestoßen. Es ist eine Frage der Zeit, bis die Melsunger mal Zweiter oder Dritter werden.
Werden die Löwen, wo Ihr Club am Samstag (20.30 Uhr) antritt, auch noch einmal dorthin kommen?
Kretzschmar: Ich bin mir sicher, dass sich die Löwen mit ihrem neuen Trainer Sebastian Hinze fangen werden. Sie werden wieder erfolgreich sein. Allerdings stellt sich die zentrale Frage: Wie lange wird das dauern? Vermutlich wird das ein paar Jahre in Anspruch nehmen. Die Meistermannschaft 2016 und 2017 ist aber auch nicht von heute auf morgen geformt worden, sondern brauchte zwei, drei Saisons.
Freut man sich als Berliner, wenn man die Fehler in Mannheim sieht?
Kretzschmar: Eine gemeine Frage. Ich will es mal andersherum formulieren: Ich freue mich nicht riesig, wenn ein Konkurrent einen überragenden Job macht. Aber ich erkenne es an, wenn ein anderer Verein respektable Transfers tätigt. So wie es beispielsweise die Flensburger in den vergangenen Jahren gemacht haben. Da bin ich mir nicht zu schade, einem anderen Club zu gratulieren. Aber klar: Natürlich schaue ich hin und wieder ein wenig erleichtert auf das Ergebnis der Konkurrenten, weil das impliziert, selbst erfolgreicher zu sein. Das hat aber nichts mit Schadenfreude zu tun. Denn ich weiß, wie hart es in einer Krise ist, wie sehr man persönlich darunter leidet und wie schwierig es auch ist, sich in der Bundesligaspitze zu behaupten.
Die deutsche Nationalmannschaft hat 2021 ihre Ziele bei WM und Olympia verpasst. Was halten Sie vom Jahr des DHB-Teams?
Kretzschmar: Puh… Erst einmal glaube ich, dass das für jeden deutschen Nationalspieler ein brutales Jahr war. Weil die Saison wegen der Corona-Pandemie später anfing, ging sie auch länger. Dazu Weltmeisterschaft und Olympische Spiele, die Bundesliga und der Europapokal. Dieses Jahr war eine der größten Tretmühlen in der Geschichte der Bundesliga. Das nur als Vorab-Bemerkung. Ansonsten glaube ich, dass es eine vernünftige Basis in der deutschen Nationalmannschaft mit Blick auf die Heim-EM 2024 und die Heim-WM 2027 gibt. Nur leider standen uns in der Vergangenheit aus unterschiedlichen Gründen nicht immer alle Topspieler zu Verfügung. Mal fehlte jemand verletzt, dann sagten Spieler aus persönlichen Gründen ab. Das kann ich alles verstehen und dafür werde ich niemanden kritisieren. Für den Bundestrainer Alfred Gislason macht es die Aufgabe aber nicht einfacher.
Er hat zuletzt einen stark verjüngten Kader nominiert.
Kretzschmar: Das sind sicherlich alles verheißungsvolle Talente und es ist richtig, auch mal etwas auszuprobieren. Allerdings bin ich kein Freund davon zu sagen: Wir befinden uns in einem Umbruch. Das Wort Umbruch hat meiner Meinung nach im Zusammenhang mit dem Thema Nationalmannschaft überhaupt nichts zu suchen. Einen Umbruch kann es bei einem Verein geben, aber nicht in der Nationalmannschaft. Da muss doch immer die beste Mannschaft spielen.
Sie haben die Absagen aus persönlichen Gründen angesprochen. Hat die Nationalmannschaft an Attraktivität verloren?
Kretzschmar: Ich bin da zwiegespalten und verstehe die Gründe. Aber es ist auch eine Einstellungssache, eine Frage der Mentalität. In meinen Augen gibt es einen großen Unterschied zwischen den Skandinaviern und den Deutschen. Die Skandinavier treten nach einer Einladung die Reise zur Nationalmannschaft mit einem Lächeln und mit Freude an. Für diese Jungs gibt es nichts Größeres. Die fahren da hin. Nun kommen wir zu den Deutschen. Ich will niemandem zu nahe treten, aber da habe ich manchmal schon das Gefühl, dass da manch einer eine Nationalmannschaftseinladung umgehend mit dem Thema Belastung assoziiert. An sowas würde Domagoj Duvnjak niemals denken. Der würde niemals den Kroaten absagen, weil ihm das gerade alles zu anstrengend ist.
Die Nationalmannschaft war zuletzt nicht sonderlich erfolgreich, Persönlichkeiten wie Uwe Gensheimer und Steffen Weinhold sind zurückgetreten, Hendrik Pekeler macht eine Pause. Klingt jetzt nicht nach großen Erfolgen in naher Zukunft.
Kretzschmar: Von Medaillen braucht der deutsche Handball momentan nicht zu reden. Davon sollte er sich sogar erst einmal verabschieden. Es ist jetzt definitiv nicht die Zeit, irgendwelche Parolen für die EM im nächsten Jahr rauszuhauen, sondern wir müssen unser Potenzial realistisch einschätzen und sagen: Wir befinden uns nicht auf dem Niveau von Frankreich, Norwegen, Schweden, Island und Dänemark. Klar, 2016 haben wir trotzdem den EM-Titel geholt. Das ist der Hoffnungsanker, der immer herhalten muss. Aber sowas lässt sich auch nicht beliebig wiederholen. Das passiert einmal in 15 Jahren.
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