Lissabon. Der Wahnsinn dieses Abends stand Sebastian Hinze und Niclas Kirkeløkke noch lange nach dem Spiel ins Gesicht geschrieben. Beide saßen auf dem Podium eines fensterlosen Raumes im Hallenkomplex von Benfica Lissabon - und noch immer schauten sie etwas ungläubig.
„Ein sehr verrücktes Ende“, sagte Hinze schließlich und suchte einen Erklärungsansatz für den 36:35 (19:15)-Sieg in der European League. „Verrückt“, war das einzige Wort, das dem immer noch etwas perplexen Siegtorschützen Kirkeløkke dazu einfiel.
Rhein-Neckar Löwen in der European League: Drei Siege in drei Spielen
Mit drei Siegen aus drei Spielen liegen die Rhein-Neckar Löwen nun in der European League voll auf Kurs. Dazu verschwendeten aber weder Hinze noch Kirkeløkke zunächst irgendein Wort. Denn viel mehr als das nackte Ergebnis bewegte sie in dieser Nacht das Drama, das zum Sieg geführt hatte.
Es läuft die letzte Minute, als es in Portugals Hauptstadt plötzlich wild wird. Die Partie steht auf der Kippe, 35:35, doch es scheint ein gutes Ende zu nehmen für die Gäste. Die Schiedsrichter pfeifen Stürmerfoul gegen die Gastgeber, die Löwen fahren einen schnellen Konter, Kirkeløkke trifft zum vermeintlichen Sieg. „Und auf einmal kommen die Sirene und das Time-out“, berichtete der perplexe Hinze.
Tatsächlich hatte Benfica-Coach Jota Gonzalez mitten im Löwen-Angriff auf seinen Buzzer gedrückt. „Aus meiner Sicht deutlich zu spät, weil wir schon im Konter sind“, erläuterte Hinze. Er beschwert sich beim Delegierten und bekommt eine Zwei-Minuten-Strafe. Trotzdem entscheiden die Unparteiischen wohl zunächst auf Tor für die Löwen. „Dann wurde aber doch das Time-out für gültig erklärt“, sagte Hinze.
Rhein-Neckar Löwen kurz vor dem Finish in der Unterzahl
Auf einmal sind die Löwen Sekunden vor dem Abpfiff mit zwei Leuten in Unterzahl und Benfica hat den Ball. Alles deutet auf eine Niederlage hin. Die Verwirrung ist perfekt. Was machst du in so einer Situation? Hinze jedenfalls kann es an der Seitenlinie nicht begreifen. Immer wieder schüttelt er fassungslos den Kopf, auch Juri Knorr fasst sich vor lauter Unverständnis an die Stirn. Aber es nützt ja nichts. Benfica darf gegen vier Löwen plus Torhüter Mikael Appelgren angreifen.
Die Portugiesen passen den Ball auf Linksaußen, wo Stiven Tobar Valencia frei vor Appelgren zum Wurf kommt. Der 23-Jährige steigt in die Luft, die Benfica-Fans in der kleinen Halle toben schon vor Begeisterung - aber Appelgren pariert. „Den letzten Wurf vergeben wir gegen einen Weltklasse-Torhüter. Appelgren ist eine Maschine - herausragend“, sagte Benficas Rechtsaußen Ole Rahmel später anerkennend.
Sieben Sekunden bleiben den Löwen jetzt noch, um mit zwei Spielern weniger einen eigentlich aussichtslosen Angriff zu fahren. Irgendwie kommt der Ball tatsächlich noch einmal zu Kirkeløkke, der zu einer Art Verzweiflungswurf ansetzt. Und tatsächlich schlägt der Ball mit der Schlusssirene in den Maschen ein. Die gesamte Löwen-Mannschaft stürmt vor Begeisterung auf den Dänen zu. Der 29-Jährige wird von seinen Mitspielern fast begraben.
„Ich habe das vorher gar nicht mitbekommen. Ich dachte, dass schon mein erstes Tor vor dem Time-out gezählt hat. Dann kam es anders - Wahnsinn“, erzählte der 14-fache Torschütze Kirkeløkke. „Gut, dass wir trotzdem gewonnen haben.“
Benficas Linksaußen Valencia dagegen stehen die Tränen in den Augen. Der Jungprofi ist am Boden zerstört. Der deutsche Ex-Nationalspieler Rahmel versucht, ihn zu trösten. „Der Sport hat sich heute in seiner ganzen Brutalität gezeigt. Handball kann wunderschön und spannend sein, aber eben auch brutal. Oft gibt es am Ende einen Helden und einen anderen Typen - und das waren in dem Fall wir“, so der 33-Jährige.
Löwen-Trainer Hinze: „Bis zur 45. Minute zufrieden“
Die Helden dagegen waren die Löwen, auch wenn Hinze letztlich versuchte, das Spiel trotz aller Emotionen sachlich einzuordnen. Im Vergleich zum ernüchternden 25:31 am vergangenen Sonntag gegen den THW Kiel habe er auf jeden Fall eine Reaktion seiner Mannschaft gesehen, sagte der 44-Jährige.
Ohne den verletzten Patrick Groetzki und den erkrankten Jannik Kohlbacher waren die Löwen jedoch nur schleppend in die Partie gekommen. Erst Mitte der ersten Halbzeit steigern sie sich deutlich. „Bis zur 45. Minute war ich sehr zufrieden. Dann finde ich schon, dass wir im Angriff wieder ein bisschen fahrig werden“, sagte Hinze, der mitansehen musste, wie seinem Team der mehr als komfortable Acht-Tore-Vorsprung unmittelbar nach der Pause (23:15/34.) unter den Händen zerrann. Auch gegen die nun konsequent mit sieben Feldspielern angreifenden Portugiesen findet die Löwen-Abwehr kein Mittel.
Und im Angriff? Wie schon gegen Kiel unterlaufen erneut etliche Fehlwürfe, Benfica kommt wieder ran. Nur darum läuft es überhaupt am Ende auf dieses Drama hinaus. Fehler, die sich Hinzes Mannschaft am Samstag bei der SG Flensburg-Handewitt auf keinen Fall erlauben darf. „Was wir heute 45 Minuten geschafft haben, brauchen wir da 60 Minuten“, meinte der Coach. „Wenn wir dort an unser Leistungslimit kommen, haben wir eine Chance, da auf Augenhöhe zu agieren.“ Ganz so dramatisch muss es aber nicht wieder sein.
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