Was bleibt von dieser EM? Vor allem die Fans. Fröhlich, freundlich, friedlich. Jedenfalls der überwiegende Teil. Sie haben dieses Turnier in Deutschland mit ihrer Lebensfreude geprägt - und über so manch unansehnliches Spiel hinweggesehen. Aber wer sind diese Menschen eigentlich? Und was haben sie erlebt?
19. Juni: Die Hoffnung für alle
In Stuttgart stehen Beci und Lina am Treppenaufgang - und genießen den Moment inmitten der vielen deutschen Fans beim zweiten Gruppenspiel. Der 22-Jährige hat regelmäßig Heimspiele der Magyaren gesehen, aber bei einem solchen Turnier ist er das erste Mal - und hat gleich noch seine 14-jährige Schwester mitgenommen.
Die Eltern haben es erlaubt. Sie kommen aus Debrecen, die zweitgrößte Stadt in Ungarn. Gereist sind sie mit dem Zug über Budapest, dann direkt weiter nach Stuttgart. Sie werden noch bis zum dritten Spiel gegen die Schotten bleiben. Was sie sich wünschen? „Wir hoffen, dass wir ein Spiel gewinnen. Wir glauben, dass es schön wird.“ Zwei junge Menschen artikulieren die Hoffnung aller.
20. Juni: Vater und Tochter im Glück
Gleich am Tag danach schreibt Jørgen Christian bereits eine Email. Will wissen, wann die Story kommt. Er ist mit seiner Tochter Dagmar zum Spiel Dänemark gegen England gekommen. Der 53-Jährige trinkt sein Bier, die 22-Jährige trägt die dänische Fahne. „Ich liebe mehr die Party, sie mehr den Fußball“, sagt er und lacht.
Während er noch in Viborg lebt, studiert sie in Kopenhagen. Beim EM-Trip half der Zufall mit: Ein Freund hatte Tickets per Lotterie gewonnen, musste dann aber kurzfristig zu einer Fortbildung, „letzte Woche hat er uns angerufen, ob wir sie kaufen wollen.“ Natürlich. Sie haben in aller Herrgottsfrühe einen Zug genommen - und fahren am selben Abend mit einem Nachtzug zurück. „Diese EM ist wirklich bequem für uns, weil Deutschland so nah ist. Deshalb sind so viele von uns da.“ Er zeigt auf lauter singende Fans von „Danisch Dynamite“. Strahlende Gesichter. Sehr schön.
23. Juni: Der deutsch-schweizerische Spagat
Schweizer sind entspannt. Deutsche auch, wenn die eigenen Mannschaften schon fürs Achtelfinale qualifiziert sind. Das bewahrt so manche Familie vor möglichen Konflikten. Sandra ist Deutsche, ihr Mann Philipp Schweizer. Zum Spiel Deutschland gegen Schweiz in Frankfurt sind ihre Zwillinge Juliana und Giuliana dabei und schon ganz aufgeregt. Die Zehnjährigen tragen stolz das pinkfarbene Deutschland-Trikot, während er das rote Dress der „Nati“ angezogen hat. Karten hat sie allerdings für den deutschen Block besorgt, „wegen der Kinder“. Er hat schon einige andere EM-Spiele gesehen, aber die Partie Serbien gegen Slowakei in München leider verpasst, „weil ein Zug aus Berlin stehen geblieben ist“. Er konnte das Ticket noch schnell vom Handy übertragen, „ein Kollege hat sich gefreut“. Glück im Unglück.
24. Juni: Die Italiener aus Wolfsburg vermissen was
Vanessa, Maria, Petra, und Sama sind miteinander verwandt. Alle um die 30, in der Nähe von Palermo geboren, aber längst in Deutschland heimisch. Ihr Arbeitgeber ist seit vielen Jahren ein großer Autobauer in Wolfsburg. Trotzdem drücken sie bei der EM Italien die Daumen. Fürs Spiel gegen Kroatien haben sie Karten ergattert und auch ansonsten viele Spiele mit Freunden geguckt.
Sie vermissen gerade ein bisschen die Stimmung von der WM 2006. „Andere Nationen sind von der EM mehr begeistert, die Deutschen halten sich viel zu sehr zurück - das ist doch schade“, sagen sie. „Damals war viel mehr Action, haben wir viel mehr Deutschland-Fahnen gesehen.“ Trotzdem finden sie auch diesmal die Atmosphäre sensationell. Bei ihrer Mannschaft sind sie skeptisch. „Europameister wird Italien diesmal nicht.“ Richtig.
25. Juni: Australische Tränen am Tag danach
Luka und Valentina kennen Europa ein bisschen. Einmal im Jahr nehmen die beiden Geschwister, 27 und 28, die weite Reise aus Perth von der Westküste Australiens auf sich, um Verwandte in Zagreb zu besuchen. Diesmal allerdings sind sie nach Leipzig gereist, haben zwei Tage kein Auge zugemacht - und gleich noch fast eine ganze Nacht geweint. Als Augenzeuge des späten Gegentores der kroatischen Nationalelf gegen Italien ist ihnen das Entsetzen auch am nächsten Morgen noch am Bahnsteig ins Gesicht gemeißelt.
„Wir waren in unserem Leben noch nie so traurig.“ Dieser vermaledeite Ausgleich in der achten Minute der Nachspielzeit. Sie gehören der kroatischen Community an, in der Bilder von einem italienischen Lebensgefährten des niederländischen Schiedsrichters Danney Makkelie im Umlauf sind. Hilft nur nichts mehr.
„Wir fahren jetzt über Berlin weiter zu unserer Familie.“ Um sich Trost abzuholen. Was ihnen aus Deutschland in Erinnerung bleibt? „Die tolle Party vor dem Spiel. Ihr solltet noch mal eine WM ausrichten!“ Leichter gesagt, als getan.
26. Juni: Über Frankfurt ins Disneyland
Der Frankfurter Stadtwald ist ein Meer von Menschen in sonnengelben Trikots mit strahlenden Gesichtern. Dazu passt später die Abendsonne hinter dem Gleisdreieck. In dieser kitschigen Kulisse erleben 30 000 Rumänien das letzte Gruppenspiel gegen die Slowakei. Dabei auch Christian und Diana mit ihren Kindern Eva und David. Er kennt Deutschland gut, weil er mal in Hamburg gearbeitet hat.
Die Familie wohnt in Târgu Mure, weit weg in Siebenbürgen. Trotzdem sind sie mit dem Auto gefahren, haben ein Hotel gebucht und irgendwo geparkt. „Alles wunderbar!“ Seine Kinder, acht und neun Jahre alt, würden auch noch auf ihre Kosten kommen, versichert der Papa und tätschelt den Kopf der beiden. Nach diesem Fußballspiel geht es nämlich weiter nach Paris und ins Disneyland. Viel Spaß.
30. Juni: Die Spanier können kicken
Drei Stunden vor der Partie Spanien gegen Georgien sind vor dem EM-Stadion in Köln-Müngersdorf erst wenige Fans angekommen. Eine gute Gelegenheit für Kinder, sich auf den saftig grünen Vorwiesen auszutoben. Ballfertigkeit scheint vielen ja in die Wiege gelegt. Wie da einige Jungen und Mädchen kicken, schaut super aus. Ihre Eltern Sergio und Teresa liefern gerne die Erklärung. „Unsere Kinder lieben den Fußball, wir lieben ihn auch.“ Er arbeitet als Futsal-Trainer und erzählt, dass die Ausbildung hier beginnt „Viele holen sich damit ihre technischen Fertigkeiten.“
Brav die kleinere Kugel am Boden halten. Bitte dribbeln und passen statt kämpfen und grätschen. Zwei Familien aus Almeria, im Flieger von Malaga nach Dortmund gekommen, schicken am Tag des Achtelfinals voraus: „Wir haben die beste Mannschaft. Das werdet ihr in Deutschland noch sehen.“ Prognose passt. Leider.
2. Juli: Schotten lieben die Bahn
Ein Paar schaut im ICE von Leipzig nach Frankfurt so angeregt aus dem Fenster raus, als kämen sie nicht von hier. Tatsächlich. Stephen und Janet aus Schottland sind seit drei Wochen auf EM-Tour und genießen ihren letzten Tag. Sie sind von Land und Leuten ganz beeindruckt, betont das Ehepaar, das sich nicht als typischen Teil der Tartan Army sieht. Wo sie überall waren? Zu Spielen in München, Stuttgart, Köln oder Leipzig. Zwischendrin zu Besuch am Starnberger See, Konstanz und Salzburg und Bacharach, eine romantische Stadt am Rhein.
Alles sind sie mit der Deutschen Bahn gefahren, die sie besser verteidigen als jeder Anwalt. Die deutsche Infrastruktur finden sie nämlich „richtig toll“. Sie wollen sich lieber nicht ausmalen, wenn ähnliche Fanmassen in vier Jahren auf der Insel vielleicht auch Zug fahren sollen. Es gebe doch gar kein Fernverkehrsnetz, um von London nach Manchester und vielleicht in seine Heimatstadt Edinburgh zu kommen. Dorthin fahren die beiden auch im Zug zurück. Gute Fahrt. Man sieht sich zur EURO 2028 in Großbritannien.
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