Berlin. So endet sie also - die Klassenfahrt. Jamal Musiala sitzt mit Co-Trainer Sandro Wagner in der geöffneten Gepäckklappe des Busses und redet. Womöglich über die 119. Spielminute. Vielleicht auch über die 106. - eventuell über das ganze Spiel oder auch die vergangenen sechs Wochen. Unter Umständen besprechen sie auch die endgültige Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest.
Derweil schaut Leroy Sané an diesem Freitagabend in den Sternenhimmel, der diesmal allerdings kein „Sternenhimmel, Sternenhimmel, oho“ ist, sondern nur der von der Stuttgarter Arena beleuchtete Nachthimmel. Sané dürfte wohl nicht an Hubert Kah denken, der einst diesen Sternenhimmel besang. Der Nationalspieler sinniert wahrscheinlich eher darüber, warum dieses Spiel gegen Spanien so gelaufen ist, wie es gelaufen ist. Außerdem kennt Sané wohl Hubert Kah gar nicht. Vor dieser Fußball-EM kannte er allerdings auch keinen Mann namens Peter Schilling. Und der kommt nun - 41 Jahre nach der Veröffentlichung seines völlig losgelösten „Major Tom“ - zu späten Ehren. Hymne der Europameisterschaft - zumindest aus deutscher Sicht.
Deutscher EM-Traum zerplatzt in der 119. Minute gegen Spanien
Aus deutscher Sicht ist diese EM vorbei. Beendet von einem spanischen Mann namens Mikel Merino. Der köpfte den Ball in der 119. Minute rücksichtslos in Manuel Neuers Tor und Deutschlands Partystimmung. Hätte ja alles anders kommen können, wenn dieser garstige englische Schiedsrichter in der 106. Minute einfach Gebrauch von seiner Pfeife gemacht hätte. Tat Anthony Taylor aber nicht, als dem Spanier Marc Cucurella von Musiala der Ball an die Hand geschossen wurde. Spanien im Halbfinale, Deutschland raus.
Davon aber lässt sich kein Stadion-DJ nachhaltig beeindrucken. Der Stuttgarter Stimmungsverantwortliche erdreistet sich, wenige Minuten nach Spielschluss, „Major Tom“ ein letztes Mal völlig losgelöst durch das Stadion zu ballern. Die deutschen Spieler aber waren da völlig niedergeschlagen.
Anders als zuletzt in Katar, in Russland oder nach der halb garen paneuropäischen Corona-EM sind sie diesmal nicht enttäuscht von sich und ihren amorphen Leistungen. Es ist die tiefe Trauer, ein sportliches Ziel verpasst zu haben, obwohl man sich komplett verausgabt hat. In einigen Wochen wird sich dieses jäh beendete Turnier als weit zufriedenstellender herausstellen als die vorherigen. In einigen Wochen aber beginnt auch schon wieder die Bundesliga.
Nagelsmann betont nachhaltige Wirkung der EM in Deutschland
Und in einigen Wochen wird zu sehen sein, ob diese EM möglicherweise wirklich eine Wirkung hat, wie sie sich Julian Nagelsmann wünscht. „Wir haben es geschafft, die Menschen zu einen“, sagt der Bundestrainer am Tag nach dem Aus. „Und ich hoffe, dass wir es auch nachhaltig hinkriegen, die Symbiose in weit wichtigeren Bereichen fortzusetzen.“ Die Hoffnung stirbt zuletzt. Und wann, wenn nicht nach derart emotionalen Wochen, ist sie denn sonst erlaubt?
Auch am Samstag kämpft der Bundestrainer immer wieder mit den Tränen, als er zusammen mit dem DFB-Sportdirektor und dem DFB-Präsidenten vor den Medien ein Resümee des Turniers ziehen soll. Schon unmittelbar nach dem Spiel zeigte sich Nagelsmann sehr angefasst. Der Kampf mit den Tränen - er verlor ihn kurzzeitig. Und am Samstag gleich noch mal. Männer weinen eben nicht nur heimlich. Männer sind so verletzlich. Männer sind auf dieser Welt einfach unersetzlich. Wann ist ein Mann ein Mann?
Nicht nur, wenn er Europameister wird. Einmal in Fahrt, grundsatzredet Nagelsmann der Bevölkerung gleich ins Gewissen. Zusammenhalt! Gemeinsinn! Das eigene Glück schätzen!
Deutschland hat sich bei der EM als formidabler Gastgeber präsentiert
Zu einer Sache darf man das eigene Land, schon jetzt beglückwünschen: Die Deutschen haben sich als formidable Gastgeber präsentiert. Von den hinlänglich bekannten infrastrukturellen Problemen mal abgesehen. Aber wer braucht schon ein funktionierendes WLAN, wenn es „Wusiala“ gibt? Also jene Kombination aus Musiala und Wirtz, dem großen Versprechen des deutschen Fußballs. Und wer braucht schon eine funktionierende Bahn, wenn am Ende dann doch alle fanmarschig das Stadion erreichen? Am beeindruckendsten die Niederländer, die sich einen Spaß daraus machen, nach dem Kommando eines Partyhits „naar links“ und „naar rechts“ zu hüpfen. Beeindruckend!
Aber mal kurzer Gesellschaftsabgleich: Hüpft denn überhaupt noch wer nach links? Hüpfen nicht die allermeisten nach rechts? Geert Wilders lässt grüßen. Am Mittwoch hüpfen die Holländer ins Dortmunder Stadion. Halbfinale. Die EM ist noch nicht vorbei - auch wenn es sich für viele so anfühlt.
Die deutsche Mannschaft hat ihren Fans wunderbare Wochen beschert. Das ist schon einmal viel mehr, als sich vor wenigen Monaten erwarten ließ. Dass sich dann doch wieder derart viele Anhänger hinter dem einstmals liebsten Kind versammelten, überraschte auch das Online-Vergleichsportal Check 24. Dort wurde jedem, der sich registriert, ein Deutschland-Shirt versprochen. Pikanterweise von Puma hergestellt und somit vom kleinen Bruder des Noch-DFB-Sponsors Adidas. Mehr als fünf Millionen Trikots versandte das Portal. Stadien und Fanzonen waren geflutet von wandelnden Vergleichsportalen. Bis zum nächsten Turnier können die Dinger als Schlafshirts genutzt werden. Dann sollen sie wieder herausgeholt werden, wenn es nach Nagelsmann geht.
Kein Bundestrainer hat rhetorisch jemals mit derart natürlicher Präzision formuliert. „Das tut weh. Auch, dass man zwei Jahre warten muss, dass man Weltmeister wird.“ Bamm. Weltmeister. Check 26!
Trainingslager und EM in Deutschland für Spieler rund um Gündogan wie eine Klassenfahrt
Bis dahin bleiben Erinnerungen. Den Spielern wie den Fans. Vonseiten der Akteure war oft zu hören, das vorgelagerte Trainingslager in Blankenhain sowie die Zeit im Teamcamp in Herzogenaurach habe sich wie eine Klassenfahrt angefühlt. Dementsprechend hatten etliche Spieler nicht nur nach dem Spiel gegen Spanien Tränen in den Augen, sondern mussten auch weinen, als sie ihren Campus verließen, berichtet Nagelsmann.
Als letzter Spieler ging Ilkay Gündogan. Der Kapitän. Und weil es ja immer noch bemerkenswert ist: erster türkischstämmiger Kapitän einer deutschen Nationalmannschaft. Dazu noch die gar nicht biodeutschkartoffeligen Jonathan Tah, Antonio Rüdiger, Deniz Undav und Jamal Musiala. Ihr Auftritt in den pinken Trikots: Provokation für manch altgermanisches Herz. Provozieren allerdings mochte dieses Team so gar nicht. Vielmehr zeigte es sich offen und zugewandt, wie schon lange keine Nationalmannschaft mehr.
Sportdirektor Rudi Völler betonte, dass dafür nicht öffentliche Trainingseinheiten verantwortlich sind, sondern dass diese Mannschaft von sich aus gerne in Kontakt tritt. Und so versicherten unter anderem Nagelsmann und Stürmer Niclas Füllkrug glaubhaft, dass sie all die Videos von den Fanzonen, Fanmärschen und anderweitigen Partys mit Gänsehaut angeschaut hätten.
Saxofnist begeistert tausende Menschen in den Fanzonen bei EM in Deutschland
„Football, bloody hell!“ - sagte einst Manchester Uniteds Trainer Alex Ferguson. Dieser Fußball vermag seine Magie immer noch zu versprühen. Im Stadion, wenn sich die Dachkonstruktion des Stuttgarter Stadions nur durch ein Wunder beim Torschrei nach Wirtz‘ Treffer nicht gen Umlaufbahn verabschiedet. Außerhalb der Arenen, wenn ein Saxofonist Abertausende wirklich völlig losgelöst tanzen und singen lässt. Football, bloody hell!
Zu gerne würde Adidas weiter von dieser nun wieder sympathischen und spielstarken deutschen Mannschaft profitieren. Der DFB hat sich anders entschieden. So hat das deutsche Team nun wohl zum letzten Mal den Home Ground in Herzogenaurach bezogen. Dieses kleine Dorf eines internationalen Sportartikelriesen. Eine mittelfränkische Kleinstadt als Vorbild für Deutschland.
Ab 2027 aber: Just do it! Nike wird dann Sponsor des DFB. Die US-Amerikaner hatten schlicht das finanziell viel bessere Angebot abgegeben. Die WM 2026 findet unter anderem in den USA statt. Dann bestreitet die deutsche Mannschaft letztmals ein Turnier in den dreigestreiften Trikots. Adidas hätte gewiss nichts dagegen, dass die DFB-Elf im Land des großen Konkurrenten den Titel holt.
Man kann klagen über den Wechsel oder das Beste daraus machen. Oder wie es Nagelsmann sagt: „Wir haben Probleme in unserem Land. Wir können aber auch mal in Lösungen denken.“ Der Bundestrainer als Bundesmotivator. So wie er es beim Achtelfinale in Dortmund tat, als es so derartig blitzte und schüttete, dass zum einen der Schiedsrichter das Spiel unterbrechen musste und zum anderen die deutsche Ingenieursarbeit einen Kunstfehler offenbarte. Der Dortmunder Dachschaden sorgte für lustige Bilder und nasse Zuschauer.
Was kann der Fußball nach der EM für die Gesellschaft bewirken?
Nagelsmann aber haderte nicht, sondern zeigte seinen Spielern während der Unterbrechung Videos, anhand derer sich das Team um Verbesserung bemühte. Deutschland gewann die Partie und die Herzen jener, die während der Vorrunde noch skeptisch auf die Mannschaft geblickt hatten.
Dass Nagelsmann nach der Niederlage gegen Spanien sowie einen Tag danach emotional gebeutelt war, dürfte die Zuschauer noch näher an die Mannschaft bringen. Da ist nichts mehr völlig losgelöst, nichts mehr irre entkoppelt von der Lebensrealität. Ob der Fußball aber nun tatsächlich auf die Gesellschaft einwirken kann?
Natürlich muss der Sport diesen Anspruch haben. Der Fußball ist ein kleiner Ausschnitt des Lebens - nun wieder mit großer Bedeutung für viele. Dass er es wieder geworden ist: gute Voraussetzung für die Zukunft. Zumindest die des Fußballs. Er wird nicht die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest beantworten. Er kann aber immer noch ein Land kurzzeitig mit sich versöhnen. Darauf einen Blick in den Sternenhimmel. Oho.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Nach dem EM-Aus gegen Spanien: Das Gerüst für eine schöne Zukunft steht schon