Während der Corona-Pandemie sind viele Menschen auf die Seite der Impf-Skeptiker und Verschwörungstheoretiker gewechselt. Besonders bitter für junge Menschen, wenn es Vater und Mutter betrifft. Von Christian Unger
Der Nutzer, der sich nur „Pletschmosi“ nennt, sendet einen Hilferuf. „Ich bin 17 Jahre alt und gehe noch zur Schule. Meine Mutter und alle meine Geschwister (zwei jüngere und zwei ältere) sind alle in den Querdenker-Wahnsinn abgedriftet“, schreibt „Pletschmosi“ auf der Internetplattform reddit. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie da auch nicht wieder rauskommen.“
Der oder die junge Nutzerin schreibt, dass seine oder ihre Mutter sowohl in den Corona-Schnelltests als auch in der Impfung nicht einen Schutz, sondern „irgendwelche bösen Machenschaften“ sehe. „Wenn ich mich impfen lasse, hat sie außerdem gesagt, dass ich mir einen anderen Ort zum Unterkommen suchen soll.“ Ein anderer Nutzer kommentiert den Beitrag: „Ich kann es wirklich kaum abwarten, frei von diesen Ketten zu sein und selber über mein Leben zu bestimmen und von diesem ganzen Verschwörungswahnsinn verschont zu sein.“
In dem Chatforum im Netz melden sich Dutzende junge Menschen, erzählen von Müttern, Vätern, Onkeln und Tanten, die sich radikalisiert haben: die an die Verschwörung einer „heimlichen jüdischen Weltherrschaft“ glauben oder die „querdenken“ und das Coronavirus leugnen. Der Chatraum ist zum Therapieplatz einer jungen Generation geworden, die ihre Eltern nicht mehr versteht.
Eine junge Frau, Mitte 20, schreibt: „Ich hab in der Zeit der Corona-Pandemie ein großes Vorbild verloren. Mein Vater war lange Zeit ein guter Wegweiser, ein Fels in der Brandung.“ Aber nun schicke er ihr „Schwurbelvideos“ und warne seine Tochter vor dem Impfen.
Menschen, die an Verschwörungsideologien glauben, sind kein neues Phänomen: Männer, die sich als „Reichsbürger“ verstehen, ihren eigenen Staat aufbauen wollen und die Bundesrepublik nur als feindliche „Firma“ ansehen; Menschen, die in Kondensstreifen der Flugzeuge „Giftwolken“ sehen. Doch mit den Corona-Protesten registrieren die Sicherheitsbehörden eine zunehmende Radikalisierung. Verfassungsschützer warnen vor der Ideologie der Querdenker, die Impfungen als „Giftspritzen“ einer angeblich verschworenen „Elite“ ansehen.
Junge erleben Loyalitätskonflikt
Anfangs kamen noch mehr gemäßigte Gegner der Corona-Politik zu den Protesten. Mittlerweile ist die Szene kleiner geworden – und extremistischer. Die Pandemie hat den Schulunterricht auf eine Probe gestellt, die Wirtschaft in den Lockdown geschickt, das Gesundheitssystem ans Limit gebracht. Doch Corona hat auch Familien gespalten, Menschen, die sich nah waren, auseinandergebracht.
Fachleute von Beratungsstellen sehen mit der Pandemie die Zahl der jungen Menschen wachsen, die in ihrer Familie erleben müssen, wie Eltern in Verschwörungsideologien abdriften. Väter und Mütter, die vorher nicht extrem waren, die teilweise gut gebildet sind, einen guten Job haben. „Für junge Menschen und Jugendliche ist es besonders belastend, wenn sich Eltern radikalisieren“, sagt Peter Anhalt, Leiter des Bereichs Rechtsextremismus bei der Fachstelle Violence Prevention Network in Berlin. Gerade wenn Menschen noch in einem Alter seien, in dem sie ihre Eltern brauchen, in dem die Familie eigentlich Schutz und Sicherheit geben soll. Junge Menschen erleben einen Loyalitätskonflikt, sagt Anhalt. Sie denken: „Es sind doch meine Eltern, aber was haben sie noch mit mir zu tun?“
Die Jugendlichen informieren sich selbst im Internet, sagt Giulia Silberberger von der gemeinnützigen Organisation „Der goldene Aluhut“. Oftmals seien die Medienkompetenz der Kinder und ihr Umgang mit Informationen im Internet sogar besser als bei den Eltern. Mit Workshops an Schulen, in Vereinen oder Unternehmen wollen Silberberger und ihr Team diesen Menschen „noch mehr Handwerk“ geben, um Verschwörungsideologien zu entlarven.
Silberberger weiß aus eigenem Erleben, wie stark ein junger Mensch leidet, wenn sich Eltern radikalisieren. Die 40-Jährige musste jahrelang zu den Zeugen Jehovas – einer Sekte, wie sie sagt. Als sie gerade neun Jahre alt war, trat die Mutter der umstrittenen Religionsgemeinschaft bei. „Erst mit Mitte 20 habe ich mich aus dieser Ideologie befreien können.“
Silberberger sagt, Kinder von sogenannten Querdenkern würden teilweise durch ihre Eltern instrumentalisiert. Ein Video bei Youtube zeigt Rolf K., einer der Szenegrößen der Corona-Leugner, auf einer Demonstration im vergangenen August. Um ihn herum Menschenmassen. Auf seiner Schulter sein Sohn. K. geht in Richtung Polizeikette. Der Polizist schubst K. zurück, der Sohn beginnt zu weinen. Die Querdenkerszene inszeniert den Vorfall als „Gewalt durch die Staatsmacht“.
„Zwanghaft missionarisch“
Mit Argumenten seien Verschwörungsideologen oft nicht erreichbar, sagt Experte Anhalt. „Sie sind fast zwanghaft missionarisch, das hat fast etwas Psychiatrisches.“ Und missioniert wird auch die eigene Familie. Für Jugendliche könne das eine hohe Belastung sein, vergleichbar mit einer psychischen Erkrankung von Mutter oder Vater. Nahestehende Menschen können oft ein letzter Anker für einen Weg aus der Radikalität sein.
Und doch, sagen Fachleute, gehe es darum, Jugendliche zu bestärken, „dass sie vor allem für sich selbst Verantwortung tragen“. Für ihr Wohlbefinden. Und nicht für das ihrer Eltern.
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