Übersterblichkeit

Warum gibt es derzeit so viele Todesfälle?

Die seit März andauernde Übersterblichkeit erreicht einen neuen Höhepunkt: Im Oktober starben in Deutschland 14 560 mehr Menschen als in den Vergleichsmonaten der letzten vier Jahre. Der Mannheimer Statistik-Professor Christoph Rothe findet die Entwicklung "ungewöhnlich". Experten rätseln über die Ursachen

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Madeleine Bierlein
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In diesem Jahr verzeichnet Deutschland eine deutliche Übersterblichkeit. Im Oktober 2022 starben besonders viele Menschen. © Bernd Thissen/Dpa

Mannheim/Berlin. In Deutschland sind im Oktober nach einer Hochrechnung des Statistischen Bundesamts 92 954 Menschen und damit deutlich mehr als in den Vergleichsmonaten der Vorjahre gestorben. Die Zahl der Todesfälle übertraf demnach den Mittelwert, auch Median genannt, der Jahre 2018 bis 2021 um 14 560. Das entspricht einem Plus von 19 Prozent. Deutschland verzeichnet bereits seit März dieses Jahres eine deutliche Übersterblichkeit. Eine Ursache für diese Entwicklung können die Statistiker in Wiesbaden bislang nicht feststellen: Die Covid-19-Todesfälle hätten zwar zur Monatsmitte einen zwischenzeitlichen Höchstwert erreicht und lägen deutlich höher als noch im September. Sie „können die Differenz aber nur zum Teil erklären“, heißt es.

„Grundsätzlich ist die Zahl der Sterbefälle nicht Monat für Monat konstant", sagt dazu Christoph Rothe, Statistik-Professor an der Universität Mannheim. „Aber dass wir über einen so langen Zeitraum eine so starke Abweichung haben, ist ungewöhnlich." So stiegen die Sterbefallzahlen schon im Frühjahr unerwartet um sieben Prozent an. Als Vergleich dient den Statistikern der mittlere Wert der Jahre 2018 bis 2021. Seither sind die Werte nicht mehr gesunken.

Anstieg der Todesfälle im Oktober besonders stark

In der Tat sterben während einer Corona- oder Grippewelle mehr Menschen als üblich. Auch länger andauernde Hitze führt zu vorzeitigen Sterbefällen. In anderen Monaten sinkt dafür die Zahl der Toten wieder. Dass aber in diesem Jahr in Deutschland so viel mehr Männer und Frauen als erwartet in den Sterbestatistiken auftauchen und der Anstieg im Oktober im Vergleich zu den Vorjahren besonders eklatant ausfällt, erstaunt Experten.

So hatte es im Sommer bereits eine deutliche Übersterblichkeit gegeben. Vor allem im Juli und August starben viele Menschen - zwölf beziehungsweise elf Prozent mehr als in den Vergleichsjahren. Experten führten dies vor allem auf die Hitze zurück. Denn hohe Temperaturen sind gerade für Patientinnen und Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen gefährlich. Allerdings könne auch die Hitzewelle die Sterbedaten vom Sommer nicht vollständig erklären, gibt Statistiker Rothe zu bedenken. Dazu kommt: Nach dem Sommer fiel die Sterblichkeit nicht - wie in anderen Jahren - in den normalen Bereich zurück.

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„Wir haben keine Daten, die die Übersterblichkeit begründen könnten“

Was die Ursachen für die anhaltende Übersterblichkeit angeht, tappen Experten und Expertinnen weitgehend im Dunkeln. Das Bundesamt für Statistik nennt als mögliche Gründe unter anderem unerkannte Corona-Todesfälle und die zeitliche Verschiebung von Sterbefällen innerhalb des Jahres infolge der ausgefallenen Grippewelle. „Möglicherweise zeigen sich auch die Folgen verschobener Operationen und Vorsorgeuntersuchungen“, führen die Wiesbadener Statistiker weiter an. Der Beitrag einzelner Effekte lasse sich allerdings derzeit nicht beziffern.

Auf ärztlicher Seiten halten sich die meisten Fachleute mit Mutmaßungen zurück. „Wir haben keine Daten, die die Übersterblichkeit begründen könnten“, erklärt etwa Gerald Gaß, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Krankenhausgesellschaft, gegenüber dieser Redaktion. Er betont: „Wir haben schon im April 2020 darauf hingewiesen, dass wir mit Sorge sehen, dass Patienten bei möglichen Notfällen nicht in die Rettungsstellen gingen. So können sich beispielsweise nicht diagnostizierte Schlaganfälle mit zeitlicher Verzögerung niederschlagen.“ Zudem seien gerade 2020 die Früherkennungsmaßnahmen für Krebs weit unterdurchschnittlich in Anspruch genommen worden. Gaß fordert daher, dass den Ursachen der Übersterblichkeit bald auf den Grund gegangen wird. Außerdem dürften Früherkennung und Notfallversorgung in Krisensituationen nicht erneut eingeschränkt werden.

Spekulationen in sozialen Netzwerken zu Gründen für Anstieg der Todesfälle

Wolfgang Miller, Präsident der Landesärztekammer Baden-Württemberg, will sich zu den Gründen der Übersterblichkeit erst äußern, wenn verlässliche Daten vorliegen. Ihm ist aber wichtig, in diesem Zusammenhang auf die Überlastung des Gesundheitspersonals hinzuweisen. „Der massive Spardruck des Bundesgesundheitsministeriums führt zu einer unerträglichen Situation. Leidtragende sind nicht nur die Ärztinnen und Ärzte in Praxen und Kliniken, sondern auch deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.“ Auch Patientinnen und Patienten spürten die Folgen dieses Spardiktats. „Es steht zu befürchten, dass sich die Situation weiter zuspitzt“, kritisiert er.

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Vor allem in sozialen Netzwerken gibt es derzeit viele Spekulationen, was die Gründe für die Übersterblichkeit betrifft. Während die einen meinen, Spätfolgen von Corona-Infektionen seien die Ursache, machen Impfgegener und -gegnerinnen lautstark die Corona-Impfung für die zusätzlichen Todesfälle verantwortlich. Statistiker Christoph Rothe hält das - genau wie andere Experten - für „unplausibel“. In der Tat gibt es keinerlei Hinweise, dass in Gegenden mit einer hohen Impfquote mehr Menschen sterben als in anderen.

Eine leichte Steigerung der Sterbezahlen von Jahr zu Jahr ist allerdings normal, der Vergleich mit den letzten vier Jahren „berücksichtigt die demografische Entwicklung nicht“, erklärt Experte Rothe. Sprich: Die Alterung der Gesellschaft ist nicht einberechnet. Vor der Pandemie lag die Steigerung der Sterbefälle laut Bundesamt für Statistik allerdings nur bei durchschnittlich einem bis zwei Prozent pro Jahr. Die Alterung der Bevölkerung erklärt den Anstieg also nur zu einem Teil.

Belastbare Erkenntnisse erst durch Todesursachenstatistik

Deutschland ist mit dem Phänomen nicht allein. In der Schweiz etwa haben die Statistiker für den Sommer und Herbst ebenfalls eine Übersterblichkeit festgestellt - vor allem in der Altersklasse über 65 Jahren. Auch sie tun sich mit den Erklärungen schwer.

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Christoph Rothe rät indes dazu, die Zahlen nicht überzubewerten. „Ja, sie sind merklich erhöht, allerdings ist die Übersterblichkeit der letzten Monate deutlich kleiner als in den großen Corona-Wellen“. Vergleichbar sei die Lage bisher in etwa mit einer Grippe-Welle.

Belastbare Erkenntnisse wird vermutlich erst die Todesursachenstatistik des Bundesamts für Statistik liefern. Diese Daten werden allerdings nicht automatisiert erfasst und kommen dadurch mit reichlich Verzögerung. „Wir planen, die Daten für das Berichtsjahr 2021 noch im November 2022 zu veröffentlichen“, gibt sich das Bundesamt für Statistik optimistisch. Allerdings könne es auch sein, dass fehlende Angaben der Standesämter sowie Personalmangel in den Statistischen Landesämtern zu weiteren Verzögerungen führen.

Redaktion Nachrichtenchefin mit Schwerpunkt Wissenschaftsjournalismus

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