Kommentar Übersterblichkeit darf der Politik nicht egal sein

Es kann nicht sein, dass Monat für Monat Tausende Menschen mehr sterben als erwartet - und trotzdem nichts geschieht, kritisiert Madeleine Bierlein

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Madeleine Bierlein
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Die Zahl hat es in sich. Im Oktober 2022 sind 14 560 mehr Menschen gestorben als im Mittel der vier vergangenen Oktober-Monate (2018-2021). Das entspricht einer Steigerung um 19 Prozent. Ebenso dramatisch: Die Übersterblichkeit dauert schon seit dem Frühjahr an und die Experten haben keine plausible Erklärung dafür. Nur eines scheint klar: Es gibt mehr als eine Ursache.

Im Internet tobt unterdessen der Kampf der Pseudo-Experten. Die einen – vor allem aus dem Team Vorsicht – sind sich sicher: Die vielen Toten sind auf Langzeitfolgen von Corona-Infektionen zurückzuführen. Die anderen – vor allem aus dem Impfgegner-Lager – sind ebenso überzeugt, dass der mRNA-Impfstoff für viele Tausend zusätzliche Todesfälle sorgt. Was beide Seiten eint: Sie legen die dünnen Daten so aus, wie es ihnen passt. Nach dem Motto „Ich mache mir die Welt wie sie mir gefällt“. Das aber bringt niemanden weiter, sondern trägt höchstens dazu bei, das gesellschaftliche Klima zu vergiften.

Die anhaltende Übersterblichkeit muss ganz nach oben auf die Prioritätenliste der Politik

Was es stattdessen braucht, ist eine schnelle und wissenschaftlich fundierte Ursachensuche. Es kann nicht sein, dass Monat für Monat Tausende Menschen mehr sterben als erwartet und trotzdem nichts geschieht. Noch immer wird die Todesursachenstatistik mit fast einem Jahr Verspätung vorgelegt. Weil auch im Jahr 2022 Mitarbeitende in den Standesämtern händisch die Todesursache vom handschriftlich ausgefüllten Totenschein des Arztes oder der Ärztin abtippen müssen. Und weil ein eklatanter Personalmangel die Behörden ausbremst. Krisen hin oder her: Die anhaltende Übersterblichkeit muss ganz nach oben auf die Prioritätenliste der Politik.

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Spardiktat im Gesundheitswesen gefährdet sichere Versorgung

Bis die Gründe für die dramatische Entwicklung vorliegen, werden wohl noch Monate vergehen. Das heißt aber nicht, dass Politik und Gesellschaft zum Nichtstun verdammt sind. Schon jetzt sind Maßnahmen bekannt, die nachgewiesenermaßen lebensverlängernd wirken. Dazu gehören: Vorsorgeuntersuchungen und ausreichend gesundheitliches Personal im ambulanten wie im stationären Bereich.

Das Spardiktat im Gesundheitswesen hat spätestens in der Pandemie gezeigt, dass es die sichere Versorgung der Patientinnen und Patienten gefährdet und das Gesundheitspersonal über Gebühr belastet. Die von Gesundheitsminister Karl Lauterbach geplante Krankenhausreform mit einer Abkehr vom Fallpauschalensystem ist schon einmal ein Schritt in die richtige Richtung. Viele weitere werden folgen müssen.

Redaktion Nachrichtenchefin mit Schwerpunkt Wissenschaftsjournalismus