Kiew/Berlin. Kaum eine politische Reise hat einen derart langen Vorlauf benötigt wie der Besuch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in der Ukraine. Am Dienstag, beim dritten Versuch, klappt es schließlich. Doch der Trip beginnt anders als geplant: Kurz nach der Ankunft in der nordukrainischen Stadt Korjukiwka wird Raketenalarm ausgelöst, Steinmeier muss in den Luftschutzkeller. Die Visite des Bundespräsidenten spiegelt ein Stück weit die deutsche Russlandpolitik der letzten Jahre wider. Sie steht auch für die Metamorphose Steinmeiers vom Russlandversteher zum in der Ukraine Unerwünschten, der am Ende doch zum erwünschten Gast wird. Die wichtigsten Stationen:
Dienstag, 25. Oktober: Wenige Stunden nach seiner Ankunft wird Bundespräsident Steinmeier von der Kriegswirklichkeit eingeholt. Als er in der Kleinstadt Korjukiwka ankommt, wird Luftalarm ausgelöst. Steinmeier, Bürgermeister Ratan Achmedow und eine Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern gehen daraufhin in einen Bunker. Dort lässt sich der Bundespräsident von den Menschen berichten, wie sie den russischen Angriffskrieg erleben.
Eine Frau erzählt unter Tränen vom Kriegsbeginn am 24. Februar, eine andere von ihrem Mann, der gegen die russische Armee kämpft. „Wir haben die ersten eineinhalb Stunden im Luftschutzkeller verbracht“, betont Steinmeier anschließend. „Das hat uns besonders eindrücklich nahegebracht, unter welchen Bedingungen die Menschen hier leben.“
Als er am Morgen auf dem Hauptbahnhof in Kiew aus dem Zugwaggon steigt, umarmt Steinmeier zunächst die deutsche Botschafterin Anka Feldhusen. Während im Hintergrund Lautsprecherdurchsagen zu hören sind, sagt er: „Meine Botschaft an die Ukrainerinnen und Ukrainer ist: Wir stehen nicht nur an eurer Seite. Sondern wir werden die Ukraine auch weiterhin unterstützen – wirtschaftlich, politisch und auch militärisch.“
Seine Botschaft an die Deutschen laute: „Vergessen wir nicht, was dieser Krieg für die Menschen hier in der Ukraine bedeutet, wie viel Leid, wie viel Zerstörung herrscht. Die Menschen in der Ukraine brauchen uns.“ Eine Botschaft der Verbundenheit und Empathie. Steinmeier, der Brückenbauer in Zeiten des Krieges.
„Mir war es wichtig, gerade jetzt – in dieser Phase der Luftangriffe mit Drohnen, Marschflugkörpern und Raketen – ein Zeichen der Solidarität an die Ukrainerinnen und Ukrainer zu senden“, fügt der Bundespräsident hinzu. „Ich schaue wie viele Deutsche voller Bewunderung auf die Menschen hier in der Ukraine. Auf ihren Mut, auf ihre Unbeugsamkeit, die sie zeigen nicht nur an der Front, sondern auch in den Städten, die beschossen werden, und auch im ländlichen Raum.“ Am Abend trifft Steinmeier den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Kiew. Gemeinsam rufen sie zur Bildung deutsch-ukrainischer Städtepartnerschaften auf. Solche Verbindungen trügen „entscheidend dazu bei, unser gemeinsames Europa aufzubauen und zu stärken“, heißt es in einem Appell. Steinmeier übernimmt zudem die „symbolische Schirmherrschaft“ für Vorhaben zur Entwicklung und zum Wiederaufbau in der nordukrainischen Region Tschernihiw.
Rückblende. Dezember 2014: Als Außenminister (2005 bis 2009 und 2013 bis 2017) profiliert sich Steinmeier als Russlandversteher, geht immer wieder auf Tuchfühlung zu seinem Amtskollegen Sergej Lawrow. Auch Monate nach der Annexion der Krim durch Moskau im Frühjahr 2014 hält er am Prinzip „Annäherung durch Verflechtung“ fest.
Beim ARD-Jahresrückblick sagt Steinmeier Sätze, die die Blauäugigkeit der deutschen Russlandpolitik im Lichte der heutigen Lage plastisch machen: „Ich sehe nicht, dass es jenseits der Krim im Augenblick Begehrlichkeiten in Richtung der Ostukraine gibt – jedenfalls in Richtung einer Annexion und Eingliederung in russisches Staatsgebiet.“
Februar 2021: Der Ton ändert sich, aber nicht die Richtung. Der Bundespräsident übt zwar scharfe Kritik an der Verurteilung des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny zu dreieinhalb Jahren Gefängnis. Die immer lauter werdenden Forderungen nach einem Baustopp der fast fertigen deutsch-russischen Gaspipeline Nord Stream 2 prallen allerdings an ihm ab.„Nach der nachhaltigen Verschlechterung der Beziehungen in den vergangenen Jahren sind die Energiebeziehungen fast die letzte Brücke zwischen Russland und Europa“, unterstreicht Steinmeier.
13. Februar 2022: Angesichts der wachsenden Konzentration russischer Truppen vor der Grenze zur Ukraine übt Steinmeier jetzt offene Kritik an dem Regime in Moskau. „Wir sind inmitten der Gefahr eines militärischen Konflikts, eines Krieges in Osteuropa. Und dafür trägt Russland die Verantwortung“, sagt er bei seiner Rede zum Beginn seiner zweiten Amtszeit als Bundespräsident am 13. Februar.
3. April: In der Ukraine nimmt man Steinmeier die veränderte Rhetorik nicht ab. Sein jahrelanges Eintreten für einen russlandfreundlichen Kurs hat tiefe Spuren hinterlassen. Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, greift den Bundespräsidenten scharf an. „Steinmeier hat seit Jahrzehnten ein Spinnennetz der Kontakte mit Russland geknüpft. Darin sind viele Leute verwickelt, die jetzt in der Ampel das Sagen haben“, erklärt Melnyk im „Tagesspiegel“.
5. April: Bundespräsident Steinmeier übt öffentlich Selbstkritik. In einem Interview sagt er: „Mein Festhalten an Nord Stream 2, das war eindeutig ein Fehler. Wir haben an Brücken festgehalten, an die Russland nicht mehr geglaubt hat und vor denen unsere Partner uns gewarnt haben.“ Es ist das Eingeständnis eines Totalirrtums. „Die bittere Bilanz: Wir sind gescheitert mit der Errichtung eines gemeinsamen europäischen Hauses, in das Russland einbezogen wird.“
Mitte April 2022: Eigentlich will Steinmeier bereits Mitte April mit dem Zug nach Kiew fahren – zusammen mit den Staatspräsidenten Polens, Lettlands, Litauens und Estlands. Unmittelbar vor dem Start kommt aber aus Kiew eine Absage für Steinmeier. Er habe zur Kenntnis nehmen müssen, dass sein Besuch offenbar „in Kiew nicht gewünscht“ sei, sagt er seinerzeit enttäuscht. Es ist die Zeit, als die Ukraine lautstark schwere Waffen von der Bundesregierung fordert. Die Ausladung wird in Berlin als beispielloser diplomatischer und politischer Affront gewertet. Selenskyj erklärt zwar, er und sein Büro hätten gar keine offizielle Anfrage für einen Besuch aus dem Bundespräsidialamt erhalten. Erst ein Telefongespräch beider Präsidenten Anfang Mai entspannt die Lage wieder. „Irritationen der Vergangenheit wurden ausgeräumt“, heißt es anschließend aus dem Bundespräsidialamt.
Donnerstag, 20. Oktober: Bereits in der vergangenen Woche will das Staatsoberhaupt in die Ukraine reisen. Doch die Visite wird kurzfristig abgeblasen. Das Bundeskriminalamt schreibt auf Twitter, es habe „angesichts der aktuellen Gefahrenlage empfohlen, die geplante Reise des Bundespräsidenten in die Ukraine zu verschieben“. Fünf Tage später fährt er dann schließlich doch.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Steinmeier in Kiew: späte Kehrtwende