Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat sich mit seinem Ukraine-Besuch lange Zeit gelassen. Die Visite am Dienstag war überfällig. Steinmeier hat in Kiew zwar die richtigen Worte gefunden. Seine Botschaft der rückhaltlosen Unterstützung für das brutal angegriffene Land, sein Aufruf zur Empathie mit der geschundenen Bevölkerung waren kraftvoll und wichtig.
Dennoch stellt sich die Frage: Warum erst jetzt? Alles, was in der internationalen Politik Rang und Namen hat, hatte sich bereits in Kiew sehen lassen. Selbst der für seine Politkapriolen berüchtigte britische Ex-Premier Boris Johnson hatte das Gespür für das richtige Timing und reiste mehrmals in die Ukraine.
In Zeiten des Kriegs – zumal eines barbarischen Angriffskriegs – zählen nicht nur Worte. Es geht auch um öffentlich bekundete Unterstützung. Bilder der Anteilnahme und des Schulterschlusses geben den Ukrainerinnen und Ukrainern das Gefühl: Wir sind nicht allein. Es ist ein wichtiges Moment der politischen Psychologie. Die Spitzenpolitiker in Polen und im Baltikum, die den russischen Aggressionskurs hautnah zu spüren bekommen, haben dies viel früher erkannt.
Steinmeier, der lange Zeit als großer Russlandversteher galt, hat inzwischen immerhin Fehler eingeräumt. Mit Blick auf seine über Jahre hinweg verfolgte Moskaufreundliche Linie sagte er Anfang April: „Da habe ich mich, wie andere auch, geirrt.“ Ein Eingeständnis, das er im selben Atemzug mit Blick auf die Irrtümer anderer – zum Beispiel von Ex-Kanzlerin Merkel – relativierte. Ein Volleingeständnis wäre glaubhafter gewesen.
Als er Mitte April von Kiew bei einem mit polnischen und baltischen Amtskollegen geplanten Besuch ausgeladen wurde, reagierte Steinmeier ungewohnt dünnhäutig. Der Bundespräsident scheint aber aus seinen Versäumnissen gelernt zu haben. Seine am Dienstag geäußerte überschwängliche Sympathie und Hilfe für die Ukraine ist wohl auch vom Bemühen getragen, den Eindruck der Vergangenheit zu korrigieren. Das Signal kommt sehr spät – aber es kommt.
Steinmeiers wichtige Geste fällt zusammen mit der späten Kehrtwende in der deutschen Russland- und Ukrainepolitik. Die mit Verve vorgetragene „Zeitenwende“ von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am 27. Februar war zunächst reine Ankündigungspolitik.
Scholz schien zunächst merkwürdig blockiert. Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag, hat dies immer wieder zu Recht kritisiert. Es dauerte Monate, bis Deutschland tatsächlich schwere Waffen an die Ukraine lieferte.
Mittlerweile hat sich der Kanzler berappelt. Ein Grund, warum die Ukrainer den Russen standhalten und teilweise die Schlacht drehen konnten, sind westliche Waffen. Das Luftabwehrsystem Iris-T der Bundeswehr hat auch dazu beigetragen.
Scholz ist jedoch auch mit Blick auf den Wiederaufbau der Ukraine in eine Führungsrolle hineingewachsen. Natürlich braucht das Land zunächst Soforthilfe: Notstromgeneratoren, Thermokleidung für den Winter, Geld für den Staatshaushalt.
Doch der Kanzler entwarf bei der Berliner Konferenz die kühne Vision einer „Generationenaufgabe“, die mit dem Marshallplan der Amerikaner in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg vergleichbar ist. Gut so!
Dieses milliardenschwere Mammutprojekt kann zwar erst nach Kriegsende ernsthaft angepackt werden. Doch die Pläne, wohin die Gelder fließen, können schon heute erstellt werden. Auch um westliche Unternehmen bei der Stange zu halten.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Steinmeier in Kiew: späte Kehrtwende
Michael Backfisch meint, dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier aus seinen Fehlern in der Russlandpolitik gelernt hat