Moskau. Sie habe den Mann danach gesehen, bei einem Volkstanz. „Unsere Stadt ist klein, hier kennt jeder jeden“, erzählt Vera. „Ich habe ihm in die Augen geschaut, er hat keinerlei Regung gezeigt.“ Vera Iwanowa (Name und persönliche Daten wurden aus Sicherheitsgründen geändert), Tanzlehrerin in einem nordrussischen Kreiszentrum, muss 30 000 Rubel, also etwa 500 Euro oder ein gutes Monatsgehalt, Bußgeld zahlen. Sie soll die russische Armee und deren Einsatz in der Ukraine verunglimpft haben.
Vera Iwanowa hatte einen Post ins soziale Netzwerk Odnoklassniki gestellt, in dem sie Russlands ukrainische „Sonderoperation“ als „Krieg“ bezeichnete und als etwas, „für das ich mich schäme“. Vorgeladen wurde Iwanowa von der Polizei. Aber aufgrund einer schriftlichen Beschwerde gegen sie, verfasst von jenem Mann beim Volkstanz. „Er schrieb: Beim Lesen meines Blogs sei ihm regelrecht schlecht geworden“, berichtet Vera Iwanowa.
Seit Beginn des Ukraine-Kriegs mussten Tausende Russen Bußgelder zahlen. Gegen mindestens 60 wurden bis Ende Mai wegen „Verunglimpfung“ oder „gezielter Falschmeldungen“ über die in der Ukraine kämpfenden russischen Truppen Strafverfahren eröffnet, ihnen drohen drei bis 15 Jahre Haft. Manche nahm man auf der Straße bei Protesten fest. Andere aber wurden von Social-Media-Freunden, Kollegen oder dem eigenen Vater angezeigt. „Die stalinsche Kultur der ,Klopferei‘ ist nach Russland zurückgekehrt“, titelte das Exilportal „The Insider“. „Klopferei“ steht für Spitzelei oder Denunziantentum.
Seit den berüchtigten Massensäuberungen unter Diktator Josef Stalin hat Moskau die Überwachungstechnik gründlich weiterentwickelt. Heute werden Teilnehmer von Friedensdemos von Gesichtserkennungssystemen der U-Bahn-Überwachungskameras aufgespürt, in den sozialen Netzwerken fahnden Suchmaschinen nach „Nein zum Krieg“, „Überfall auf die Ukraine“ oder anderen verbotenen Wendungen.
Vielen Abweichlern aber werden auch ihre Mitmenschen zum Verhängnis. Die Anthropologin Alexandra Archipowa sagte gegenüber dem Portal „The Village“, die „Klopfer“ seien für etwa zehn Prozent der Verfahren verantwortlich.
In einem Krankenhaus in Ulan-Ude endete ein Streit zwischen zwei Patienten über den Feldzug in einer Prügelei. Danach zeigte der eine, ein pensionierter 70-jähriger Ingenieur, seinen Gegner, einen 60-jährigen Afghanistan-Veteranen, wegen Körperverletzung an. Der konterte mit einer Beschwerde beim Inlandsgeheimdienst FSB. Er müsse doch „die Ehre meiner Söhne, Putins, meiner Landsleute verteidigen“, erklärte der Mann, der zwei Söhne bei der kämpfenden Truppe hat, dem Portal „Ljudi Bajkala“. Nun droht dem verprügelten Ingenieur – auch vier seiner Neffen dienen in der Ukraine – wegen „Verunglimpfung der Armee“ eine Geldstrafe von 30 000 bis 100 000 Rubel.
Unter Stalin war Zuträgerei ein Massenphänomen. Spitzel galten als Helden, Schulkinder wurden gefeiert, wenn sie ihre Eltern als Getreidediebe oder Konterrevolutionäre angezeigt hatten.
Jetzt drohen der Englischlehrerin Irina Gen in Pensa bis zu zehn Jahre Gefängnis wegen „Fake-Nachrichten über die russische Armee“. Sie hatte die „Sonderoperation“ vor ihrer Klasse heftig kritisiert. Ein Schüler zeichnete das Gespräch per Handy auf. Den Drittklässler Dmitri aus Swenigorod bei Moskau, der die Parole „Ruhm der Ukraine“ in den Klassenchat postete, zeigte der Vater eines Mitschülers an. Und der Vorstadtmoskauer Timur Chalitow rief bei der Polizei an und verlangte die Festnahme seiner Tochter: Die Studentin fordere im Internet dazu auf, „Russen zu töten“.
„Die sowjetische Zuträgerei ist nie ganz ausgerottet worden“, sagt der Historiker Waleri Subow. „Wie in der Sowjetunion ,klopft‘ man, um mit jemandem persönlich abzurechnen, weil man sich von ihm beleidigt fühlt oder ihm seinen Job wegnehmen will. Aber viele handeln aus Gesinnung: Wenn du nicht denkst wie ich, bist du ein Verräter und hast bei uns nichts zu suchen.“
Gefördert durch die Obrigkeit
Die Obrigkeit fördert das neue Denunziantentum. Die Petersburger Abteilung der Staatspartei Einiges Russland hat auf Telegram den Kanal @er_stopfake_bot eröffnet, um „Signale über Fake-Nachrichten“ entgegenzunehmen. Man werde sie an die staatliche Zensurbehörde Roskomnadsor weiterleiten. Auch in Moskau und sieben anderen Regionen wurden laut „The Village“ „Klopfer“-Bots installiert.
Vera Iwanowa erzählt, eine Polizistin habe ihr den Beschwerdebrief gegen sie gezeigt. Der Verfasser arbeite in der Stadtverwaltung. „Vermutlich hat man ihn gebeten, die Beschwerde zu schreiben.“ Für Staatsdiener droht „Klopfen“ wieder zur Pflicht und Ehre zu werden.
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