Interview

Olaf Scholz im Exklusivinterview: „Wer Juden in Deutschland angreift, greift uns alle an“

Bundeskanzler Olaf Scholz hat im Interview mit dem "Mannheimer Morgen" die Bürger zu Zivilcourage aufgefordert, um Antisemitismus zu bekämpfen. Wegen des Streits in der Ampel übt er Kritik an den Regierungspartnern

Von 
Madeleine Bierlein , Karsten Kammholz und Marco Pecht
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Besorgt um Judenfeindlichkeit in Deutschland: Bundeskanzler Olaf Scholz in Mannheim. © Torsten Silz

Mannheim. Herr Scholz, die Hamas greift Israel an, verübt ein Massaker an unzähligen Zivilisten – und was erleben wir bei uns? Einen Ausbruch an Israelhass, Antisemitismus und immer wieder „Ja, aber”-Debatten. Welche Erklärung haben Sie dafür?

Olaf Scholz: Deutschland steht fest und unverbrüchlich an der Seite Israels – darauf können sich alle verlassen, erst recht nach dem brutalen Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober. Antisemitismus werden wir nicht akzeptieren. Wir haben glasklare Gesetze: Es ist strafbar, israelische Fahnen zu verbrennen. Es ist strafbar, den Tod von Unschuldigen zu bejubeln. Es ist strafbar, antisemitische Parolen zu brüllen. Unsere Strafverfolgungsbehörden stehen in der Pflicht, solche Verstöße zu ahnden, so herausfordernd das mitunter sein mag. Und wir werden die jüdischen Einrichtungen schützen. Das ist Aufgabe des Staates. Wer Juden in Deutschland angreift, greift uns alle an. Deshalb sollten wir uns alle für den Schutz von Jüdinnen und Juden in Deutschland einsetzen, da geht es um Zivilcourage.

Wer schürt den Hass gegen Israel?

Scholz: Mich bedrückt der Antisemitismus in unserem Land – schon lange. Es ist egal, von woher er kommt, ob von ewig Gestrigen, von links, von rechts, ob er aus religiösen oder atheistischen Motiven entsteht. Wir müssen uns gegen Antisemitismus klar positionieren. Unter den demokratischen Parteien sind wir uns darin einig.

Wir müssen Antisemitismus bekämpfen – ohne jedes Pardon
Olaf Scholz Bundeskanzler

Es ist doch nicht egal, woher der Hass kommt. Wenn wir sagen, das Existenzrecht Israels ist Staatsräson, dann müssen wir doch benennen, wer sie verachtet.

Scholz: Wir müssen Antisemitismus bekämpfen – ohne jedes Pardon. Die Strafverfolgungsbehörden haben die nötigen Instrumente und müssen sie konsequent nutzen. Mein Eindruck ist: Polizeibehörden und Gerichte wissen, was zu tun ist.

Die deutsche Hamas-Geisel Shani Louk ist tot. Was können Sie uns über die anderen deutschen Geiseln in Gaza sagen?

Scholz: Es war barbarisch, was mit Shani Louk geschehen ist. Und es zeigt: Die Hamas ist eine Terrororganisation. Wir arbeiten mit den israelischen Behörden zusammen. Gleichzeitig nutzen wir alle Kontakte in die Region, um die bedingungslose Freilassung aller Geiseln zu ermöglichen. Bei meinen Gesprächen mit Staatschefs aus dem Nahen Osten ist das immer ein Thema.

Bundeskanzler Olaf Scholz (von links) im Interview mit Karsten Kammholz, Marco Pecht und Madeleine Bierlein in Mannheim. © TORSTEN SILZ

Sind Sie optimistisch?

Scholz: Die Situation ist sehr schwierig, deshalb möchte ich nicht spekulieren. Wir tun alles, um die Freilassung zu ermöglichen.

Um wie viele Geiseln handelt es sich?

Scholz: Bitte haben Sie Verständnis, dass ich darüber hier nichts Genaueres mitteilen möchte.

Israel hat die Bodenoffensive im Gazastreifen gestartet. Welchen militärischen Beitrag wird Deutschland für Israel leisten?

Scholz: Die israelische Regierung weiß, dass wir – etwa beim Material – helfen werden.

Israel kann nicht daran gehindert werden, sich gegen die fortgesetzten Attacken der Terrororganisation der Hamas zu verteidigen und die Hamas-Terroristen anzugreifen
Olaf Scholz Bundeskanzler

Muss es eine Waffenpause geben, um Zivilisten im Gazastreifen zu schützen?

Scholz: In der Wortwahl müssen wir sehr präzise sein. Der Europäische Rat hat vor einigen Tagen zu Waffenpausen aufgerufen. Sie sind nötig, um humanitäre Hilfe nach Gaza zu bringen, um Kranke und Verletzte aus dem Gebiet zu evakuieren und um zu ermöglichen, dass Geiseln oder Staatsangehörige anderer Länder Gaza sicher verlassen können. Aber: Israel kann nicht daran gehindert werden, sich gegen die fortgesetzten Attacken der Terrororganisation der Hamas zu verteidigen und die Hamas-Terroristen anzugreifen, die sich in Gaza verschanzen und die dortigen Bewohner als menschliche Schutzschilde missbrauchen. Die Palästinenserinnen und Palästinenser sind ebenfalls Opfer des Hamas-Terrors.

Vizekanzler Robert Habeck hat in einer Videobotschaft sehr eindringlich die unverrückbare Solidarität Deutschlands mit Israel erklärt. Wäre eine solche Rede nicht besser Ihre Aufgabe gewesen?

Scholz: Der Vizekanzler hat die Position der gesamten Bundesregierung in diesem Social-Media-Video ganz hervorragend formuliert. Dafür möchte ich ihn ausdrücklich loben, genauso übrigens wie Annalena Baerbock, die sich kraftvoll engagiert, um in diesem Konflikt mit allen Seiten im Gespräch zu bleiben.

Ist besorgt über Antisemitismus in Deutschland: Kanzler Olaf Scholz beim Interview in Mannheim. © TORSTEN SILZ

Wie ist die Stimmung in der Ampel?

Scholz: Wenn wir uns treffen, meistens gut. (lacht) Aber ich weiß, worauf Sie mit ihrer Frage hinauswollen. Wenn man sich nüchtern nur die Liste all unserer Entscheidungen anschauen würde, könnte man sagen: Mann, das ist mal eine Leistung! Die Bundesregierung hat die wirtschaftlichen Folgen des russischen Überfalls auf die Ukraine für unser Land gut abgefedert, in Rekordzeit das Land von russischem Gas unabhängig gemacht und parallel dazu die nötigen Entscheidungen getroffen, um den Klimawandel wirksam aufzuhalten und Deutschland industriell zu modernisieren. Mit dem Deutschlandpakt wollen wir dieses Tempo nun auch in all die anderen Planungs- und Genehmigungsprozesse bringen – denn in Deutschland dauert das oft noch viel zu lang. So weit, so gut. Schlecht ist, dass es über all diese Fragen zu viel öffentlichen Streit in der Koalition gegeben hat, das trübt die Stimmung.

Sie haben selbst kürzlich gesagt, dass sich die Regierung „einen absurden Dauerstreit über politische Entscheidungen“ nicht leisten kann. Braucht es ein deutliches Kanzler-Basta?

Scholz: Unser Land gewöhnt sich gerade daran, dass es Regierungen mit drei Parteien und mehr geben kann. Parteien haben naturgemäß oft unterschiedliche Standpunkte. Manche Parteien lernen gerade, was es bedeutet, sich einigen zu müssen – und zwar nicht auf 100 Prozent des eigenen Parteiprogramms. In Zeiten von Unsicherheiten ist es wichtig, dass wir in allen wichtigen Fragen vernünftige Entscheidungen treffen. Und die gefundene Linie dann auch gemeinsam nach außen vertreten.

Die Umbrüche sind groß, deshalb brauchen die Bürgerinnen und Bürger die Zuversicht, dass unser Land auch in 10, 20 und auch in 30 Jahren technologisch noch ganz vorn mitspielt
Olaf Scholz Bundeskanzler

Sie sind seit fast zwei Jahren Bundeskanzler. In der Zeit ist das Vertrauen in die Bundesregierung massiv gesunken. Wie wollen Sie dieses Vertrauen zurückgewinnen?

Scholz: Überzeugen können wir nur durch Taten. Die Umbrüche sind groß, deshalb brauchen die Bürgerinnen und Bürger die Zuversicht, dass unser Land auch in 10, 20 und auch in 30 Jahren technologisch noch ganz vorn mitspielt. Genau daran arbeiten wir: Wir steigen in der Autobranche auf die Elektromobilität um. Deutschland wird gerade zum wichtigsten Halbleiter-Produzenten in Europa. Und in wenigen Jahren, in 2030, werden 80 Prozent unseres Stroms aus Sonne, Wind und Biomasse generiert werden.

Wir stolpern von einer Krise in die nächste. Corona, Ukraine-Krieg, Nahost. Droht die Ampel den Klimaschutz in der aktuellen Krisenzeit aus den Augen zu verlieren?

Scholz: Diese Gefahr sehe ich nicht. Ich bin überzeugt, dass wir die Klimaziele für den Planeten nur erreichen werden, wenn Deutschland als wachsende Volkswirtschaft mit technologischen Innovationen erfolgreich bleibt. Mit unserer Kapitalkraft, unserer Wirtschaft, mit Wissenschaft und Ingenieurskunst haben wir das Potenzial, neue Technologien zu entwickeln und einzusetzen, damit künftig überall auf dem Planeten auf fossile Energien verzichtet werden kann. Denn ich glaube nicht daran, dass wir den aufstrebenden Staaten in Asien, in Afrika oder in Südamerika einfach vorschreiben können, dass sie auf Wohlstand, auf wirtschaftliche Entwicklung und Fortschritt verzichten sollen, den wir bei uns für selbstverständlich erachten. Die Antwort muss sein, die Technologien zu entwickeln, um Wohlstand und Wachstum klimaneutral zu ermöglichen. Wenn es Deutschland gelingt, bis 2045 klimaneutral zu werden und Industrieland zu bleiben, werden viele diesem Weg folgen.

Die langfristigen Klimaziele werden eingehalten?

Scholz: Das ist unser Ziel: Modernste Technologie schützt Wohlstand und das Klima.

Bundeskanzler Olaf Scholz beim "MM"-Interview in Mannheim. © Torsten Silz

Herr Scholz, aktuell bewältigen vor allem die Städte und Gemeinden das Management der zu uns kommenden Flüchtlinge. An diesem Montag gibt es dazu ein Bund-Länder-Treffen. Die Länder fordern die komplette Kostenerstattung für Unterbringung und Integration. Was geben Sie ihnen?

Scholz: Das ist eine gesamtstaatliche Aufgabe. Der Bund wird allein in diesem Jahr schon fast 18 Milliarden Euro an Entlastungen für die Länder und Kommunen finanzieren, um die Aufgaben in der Migrationspolitik zu stemmen. Jetzt sprechen wir über weitere Unterstützung. Ich bin zuversichtlich, dass wir uns auch in den Geldfragen einig werden.

Im Moment kommen zu viele Menschen irregulär nach Deutschland
Olaf Scholz Bundeskanlzer

Wie gehen Sie Ihr Ziel an, schneller abzuschieben?

Scholz: Im Moment kommen zu viele Menschen irregulär nach Deutschland. Eine ganze Reihe von ihnen wird keine Berechtigung erhalten, hier zu bleiben, weil sie die nötigen Schutzgründe nicht geltend machen können. Sie müssen nach Abschluss des Asylverfahrens in ihre Heimat zurückkehren. Wir wollen die Verfahren beschleunigen, so dass Asyl- und erstinstanzliche Gerichtsverfahren grundsätzlich jeweils innerhalb von sechs Monaten beendet werden. Antragstellung und Anhörung sollen noch in der Erstaufnahmeeinrichtung stattfinden.

Welche Maßnahmen braucht es noch?

Scholz: Die Länder Moldau und Georgien werden zu sicheren Herkunftsländern erklärt. Wir stärken den Grenzschutz zur Schweiz, zu Österreich, Tschechien und Polen, genauso werden die EU-Außengrenzen verstärkt. Wir wollen Migrationsabkommen mit einer Reihe von Ländern schließen, damit sie ihre Landsleute, die keine Bleibeperspektive bei uns haben, zurücknehmen. Deutschland hat da wirklich etwas anzubieten: Angesichts von 13 Millionen Babyboomern, die demnächst in Rente gehen, brauchen wir zusätzlich zu unseren jungen Menschen nach Berechnungen von Fachleuten bis etwa 2030 viele zusätzliche Arbeitskräfte aus dem Ausland.

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Führt die schärfere Asyldebatte bei uns womöglich dazu, dass Deutschland als Land wahrgenommen wird, in dem Ausländer nicht willkommen sind?

Scholz: Nein. Der Blick von außen auf Deutschland ist anders, das spüre ich auf all meinen Auslandsreisen sehr deutlich. Wie kaum ein zweites Land hat Deutschland von der Freizügigkeit in der EU profitiert. Wir haben heute mehr Erwerbstätige als je zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik, das stützt unseren Wohlstand und unseren Sozialstaat. In der Migrationspolitik folgen wir dem Prinzip von Humanität und Ordnung: Eine geordnete Zuwanderung nach Deutschland kann nur funktionieren, wenn wir genauso geordnet jene in ihre Heimat zurückbringen, die hier nicht bleiben können.

Redaktion Nachrichtenchefin mit Schwerpunkt Wissenschaftsjournalismus

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