Liebe Leserinnen und Leser!
Raue Zeiten sind es: Krieg, Flucht und Vertreibung kommen unserer Gesellschaft so nah wie lange nicht mehr. Zukunftsängste lasten auf den Menschen wie Blei. Rekordinflation und Energiekrise sprengen die Haushaltskassen. Da kommt der Friedefürst zur rechten Zeit zur Welt, Gott wird Mensch, das Weihnachtswunder möge beginnen. Fürchtet Euch nicht!
Ganz so einfach wird es diesmal nicht. Wie soll man sich bitte nicht fürchten in dieser Zeit? Das Magazin „stern“ zitiert in seiner aktuellen Ausgabe eine Neurowissenschaftlerin mit folgenden Worten: „In Angst sinkt unser IQ nachweisbar. Wenn wir Angst haben, sind wir dümmer.“ Die Conclusio: Angst ist keine Option. So stellt sich der biblische Ruf „Fürchtet Euch nicht!“ als eine geradezu wissenschaftliche, medizinische Formel der Hilflosigkeit und Starre entgegen. Wer hätte das gedacht?
Papst Franziskus gibt eine traurige Stimmung vor
Es gibt in diesem Jahr offenkundig viel zu sagen in den Weihnachtspredigten. Allgemeinen Optimismus und Aufbruchstimmung in diesen düsteren Zeiten zu verbreiten, kann allerdings nicht Aufgabe der Pfarrerinnnen und Pfarrer sein. „Das wird ein trauriges Weihnachten, ein Kriegsweihnachten“, gibt Papst Franziskus die Stimmung vor. Mit Blick auf den Krieg gegen die Ukrainer sagt er: „Lasst uns keine Angst haben und weinen wir ein wenig. Das Schlimmste, was uns passieren kann, ist wegzusehen.“
Der Pontifex macht es den Predigern aller Konfessionen nicht leicht, die frohe Botschaft zu verkünden. Er will, dass wir den Blick auf diejenigen richten, die im Krieg oder auf der Flucht an den Festtagen rein gar nichts von der inneren Erneuerung spüren, für die Weihnachten so sehr steht. Schaut genau hin! Es ist eine Weihnachtsbotschaft an die Zufriedenen, die Saturierten, die Privilegierten: Seht auch die Menschen, die keinen Trost und kein Glück empfinden in diesem glanzvollsten aller Feste. Dafür muss der Blick gar nicht allzu weit schweifen.
Auch ohne Krieg und Vertreibung ist unser soziales Fundament brüchiger geworden. Genau in diesen Tagen wird einmal mehr eine Entwicklung sichtbar, auf die es bislang politisch und gesellschaftlich keine adäquate Antwort gibt: Einsamkeit. Die Zahl der deutschen Singlehaushalte liegt bei bald 50 Prozent. Alleinstehende Menschen, ob jung oder alt, verstecken ihr Leiden zu oft hinter verschlossenen Türen. Ausgerechnet an Weihnachten übertünchen Bilder von vermeintlich glücklichen Familien das Elend der Alleinstehenden, Verlassenen und Zurückgezogenen. Für die Einsamen beginnen jetzt die schlimmsten Tage des Jahres.
Weihnachten setzt uns allen zu, es löst immer etwas aus
Was muss eine Gesellschaft tun, um für diese Menschen da zu sein? Wie gelingt es, sie überhaupt wahrzunehmen? Auch dort hinzusehen, wo auf den ersten Blick vielleicht nichts zu erkennen ist? Und wieviele werden zwar in familiärer Gesellschaft vor dem Weihnachtsbaum sitzen und sich dennoch isoliert und entkoppelt fühlen? Weihnachten setzt uns allen zu, es löst immer etwas aus.
Es erreicht als emotional erhebendes Fest aber nur dann seine Bestimmung, wenn Umsicht und Fürsorge als seine Leitmotive gelebt werden. Jede noch so kleine Geste der Zugewandtheit kann seinem Gegenüber Zuversicht schenken. Einfach gesehen zu werden, in welcher Form auch immer, kann einer einsamen Person wie ein Weihnachtsgeschenk vorkommen. Und sollte all dies doch nicht geschehen, sollte Weihnachten nicht im Herzen eines Menschen wahr werden wollen, dann möge dieser Mensch die Kraft haben, zum Telefon zu greifen. Die Telefonseelsorge, getragen von evangelischer und katholischer Kirche, ist rund um die Uhr kostenfrei erreichbar. Unter den Nummern 0800/1110111 und 0800/1110222 ist immer jemand da, der zuhört. Niemand muss allein durch diese besonderen Tage gehen.
Frohe Weihnachten, liebe Leserinnen und Leser!
Ihr Karsten Kammholz
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar In der Weihnachtszeit zählen kleine Gesten gegen Einsamkeit
Nicht für alle bedeutet Weihnachten Freude. Es löst Emotionen aus, viele fühlen sich sogar isoliert. Auf die Einsamen unter uns muss in diesem Kriegsjahr die Gesellschaft ein Augenmerk legen, findet Karsten Kammholz