Viel zu spät hat der politisch wenig interessierte Lehrer die Brisanz der Situation erkannt. Die Schule, in der seine berufstätige Schwester ihren 13-jährigen Sohn Sascha untergebracht hat, liegt am anderen Ende der Kleinstadt. Sie ist unter Beschuss geraten. Das zivile Leben ist nach wochenlangen Kämpfen zwischen ukrainischen Truppen und den von verdeckten russischen Streitkräften unterstützten Separatisten zusammengebrochen.
Es dauert einen ganzen Tag, um durch die Stadt zu kommen. Aber er macht sich auf den Weg, um den Neffen aus dem Internat herauszuholen. Eine atemlose Geschichte entwickelt sich, denn die beiden geraten auf dem Heimweg in die Nähe der Kampfhandlungen. Maschinengewehre rattern, Minen explodieren, Menschen stolpern verstört durch die Straßen.
Welche Antwort auf die Lebens-Frage?
In seinem ersten Kriegsroman schildert der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan die Situation in der Anfang 2015 umkämpften Stadt Debalzewe im Donbass mit einer Mischung aus Angst, Selbstbehauptung und Verantwortungsgefühl. Und irgendwie endet der Roman „Internat“ (2017) sogar mit einem verhaltenen Ausblick der Hoffnung. „Jeder plant, am Leben zu bleiben, zurückzukehren.
Georg Bätzing
- Georg Bätzing ist seit 2016 Bischof von Limburg und seit 2020 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz.
- Bätzing wurde im April 1961 in Kirchen an der Sieg geboren.
- Er gilt als Reformer in der katholischen Kirche. So kritisiert er unter anderem, dass Frauen von Weiheämtern ausgeschlossen sind.
Alle wollen zurück nach Hause, alle mögen das Gefühl heimzukehren“, denkt Sascha, der Neffe, ganz am Schluss – und er hat recht. „Wie aber bleibt man denn am Leben?“, schreibe ich ihm nachts. Er antwortet mit einer Sprachnachricht, doch er antwortet nicht wirklich. Er sagt: „Mit den Sobraky fahren wir morgen früh nach Dnipro.“ Macht eine Pause, dann: „Wir wollen ein neues Lied aufnehmen.“ Vielleicht ist ja genau das die Antwort auf die Lebens-Frage.
Zuversicht in dunklen Situationen
Fast möchte ich sagen, der Roman endet mit einem weihnachtlichen Motiv. Denn mich erinnert dieser Schluss an die Bilder der Zuversicht, die während der Weihnachtsgottesdienste aufgerufen werden. Es ist kein Zufall, dass der alttestamentliche Prophet Jesaja die drei Gottesdienste an Weihnachten (in der Nacht, am Morgen und am Tag) prägt; nicht nur, weil schon sein Name Programm ist. Jesaja, das bedeutet nämlich (ähnlich wie „Jesus“) „der Herr rettet“.
Und von nichts anderem handelt das Buch des Propheten als vom Rettungswillen und der Rettungsmacht des Gottes Israels durch alle ge-schichtlichen Tiefen hindurch, die das Gottesvolk durchlebt. Kein Wunder also, dass diese Bilder für die Geburtserzählungen der Evangelien so prägend geworden sind: „Das Volk, das in der Finsternis ging, sah ein helles Licht […]. Denn sein drückendes Joch und den Stab auf seiner Schulter, den Stock seines Antreibers zerbrachst du […]. Jeder Stiefel, der dröhnend daherstampft, jeder Mantel, im Blut gewälzt, wird verbrannt, wird ein Fraß des Feuers. Denn ein Kind wurde uns geboren, ein Sohn wurde uns geschenkt. Die Herrschaft wurde auf seine Schulter gelegt.“ (Jes 9,1.3-5) Das ist die unmissverständliche Ansage göttlicher Hilfe, die der Not der Unterdrückung ein Ende macht.
Suche nach dem Mittel gegen Gewalt
Oder als hoffnungsvoller Ausblick auf die Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft in die Heimat: „Wie willkommen sind auf den Bergen die Schritte des Freudenboten, der Frieden ankündigt […]. Brecht in Jubel aus, jauchzt zusammen, ihr Trümmer Jerusalems! Denn der Herr hat sein Volk getröstet, er hat Jerusalem erlöst.“ (Jes 52,7.9) Ja, getröstet und im Vertrauen bestärkt kann man den Weg in die Zukunft wagen, auch wenn er weit und beschwerlich ist.
Ich finde, die Laudatorin hatte recht mit dem, was sie bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Serhij Zhadan in der Frankfurter Paulskirche am 23. Oktober über die Wirkung von Dichtung ausführte: Diese sei gewiss kein Mittel gegen die Eskalation von Gewalt. Sie sei weder für moralischen Beistand zuständig, noch tauge sie als Friedensbringer. Was sie aber leisten könne, seien kleine Momente der Reparatur, indem sie – und sei es nur einen einzigen Menschen – aufatmen lässt; weil sich jemand in einem fremden Gesicht wiedererkennt oder in einem Satz, der den eigenen Abgrund für einen Augenblick zum Verschwinden bringt (F.A.Z. vom 24. Oktober 2022).
Ja, das erhoffe ich mir auch zu Weihnachten: Dass die von Krieg, Kälte und Dun-kelheit geplagten Menschen in der Ukraine und überall auf der Welt für einen Augenblick aufatmen können. Dass die Millionen, die aus ihrer Heimat geflüchtet sind, Respekt und Zuneigung erfahren. Dass alle, die nicht wissen, wie sie angesichts der Energiekrise und der immensen Preissteigerungen ihr Auskommen sichern sollen, genug Unterstützung durch die staatliche Gemeinschaft und darüber hinaus viel menschliche Solidarität bekommen. Und all die Geschichten, Lieder und lichtvollen Symbole dieser festlichen Tage mögen ihre Wirkung nicht verfehlen und Zuversicht vermitteln - allen, die sie auf sich wirken lassen, und unabhängig davon, ob sie gläubig sind oder nicht. Weihnachten ist für alle da!
Nach Zeichen Ausschau halten
Freilich stellt es Christinnen und Christen in eine besondere Verantwortung. Denn die Geburt des Erlösers ist für uns der „Anfang des Heils“ und der Beginn einer neuen Zeit. An Weihnachten hat Gott sehr konkret in die Geschicke der Welt eingegriffen und die Weichen gestellt für eine Menschheit, die neue Wege beschreitet in der Spur des Mannes aus Nazaret. Für mich bedeutet das: nicht resignieren vor der „alten Welt“ und ihrem beklagenswerten Zustand, sondern jetzt schon nach Zeichen der „neuen Welt“ Ausschau halten und sie stark machen. Mitten in der Finsternis dem Licht folgen und es verbreiten.
Als Jesus einmal von den Gelehrten gefragt wurde, wann denn das Reich Gottes komme, da antwortete er: „Das Reich Gottes ist (schon) mitten unter euch.“ (Lk 17,21) Martin Luther blieb (zu) vorsichtig, als er das griechische Original folgendermaßen in unsere Muttersprache übersetzte: Es ist „inwendig in euch“. Also, äußerlich mag nichts von der Gottesherrschaft zu erkennen sein, aber in der Seele der Glaubenden, da lebt es schon. Vielleicht war der Reformator noch allzu sehr Realist. Denn solche Unsichtbarkeit passt nicht zu der Art, wie Jesus von der Gottesherrschaft gesprochen hat.
Keine Zeit mehr für Zögern und Zaudern
In seinen Zeichen und Worten machte er deutlich: Die neue Zeit ist schon da. Sie hat begonnen. Seht doch, Blinde sehen, Lahme gehen, Tote leben auf und Armen wird das Evangelium verkündet (vgl. Mt 11,5 und Jes 35,5f.). Seine Antwort ist eindeutig ein Weckruf „gegen das Sich-nicht-entscheiden Wollen“ (Gerhard Lohfink).
Die Zeit des Zögerns und Zauderns ist vorbei, wir müssen uns entscheiden: Ja oder Nein zu Jesus und seinem leidenschaftlichen Engagement für Gottes neue Wege mit uns Menschen? Das Ja zu Jesus wird nicht folgenlos bleiben. Für mich heißt das etwa im Blick auf die Zukunft in der Ukraine: Auch wenn die Unterstützung des völkerrechtswidrig überfallenen Landes durch alle benötigten Güter weitergehen muss, braucht es gleichzeitig jetzt schon Friedensinitiativen. Denn wie soll es sonst weitergehen, wenn hoffentlich bald endlich die Waffen schweigen?
Zuversicht auf ein neues Leben
Diese Zeit des Krieges und brutaler Menschenrechtsverletzungen sät Hass in die Herzen von Menschen. Und der wird vermutlich über Generationen hinweg wieder und wieder Gewalt provozieren. So lehrt es die Erfahrung unter den Gesetzmäßigkeiten der „alten Welt“. Wie aber kann jetzt schon die Saat des Friedens ausgestreut werden? Können diplomatische Gespräche und vertrauensbildende Maßnahmen bereits Menschen von beiden Seiten zu friedensstiftenden Gesprächen und Projekten zusammenführen?
Viele solcher Menschen leben derzeit in Deutschland. Gehen wir auf sie zu und sprechen wir mit ihnen über Licht und gemeinsame Perspektiven mitten in der Finsternis von Krieg und Zerstörung. Darin sehe ich einen konkreten Dienst von Christinnen und Christen an der Gottesherrschaft, die seit der Geburt Jesu mitten unter uns wächst.
Licht und Zuversicht zu Weihnachten
Und wenn ich an Heiligabend mit den Gefangenen in einer Justizvollzugsanstalt Weihnachten feiern darf, dann hoffe ich, dass auch alle mit ihrer Schuldgeschichte den Atem einer „neuen Welt“ und die Zuversicht auf ein anderes Leben in neuen Bahnen spüren können.
Der Theologe und Journalist Jochen Klepper (1903-1942) hat es in einem Hoffnungslied aus finsterer Zeit so ins Wort gebracht: „Noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und -schuld.
Doch wandert nun mit allen der Stern der Gotteshuld. Beglänzt von seinem Lichte, hält euch kein Dunkel mehr; von Gottes Angesichte kam euch die Rettung her.“ Ihnen allen wünsche ich von Herzen Licht und Zuversicht und ein frohes Weihnachtsfest.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/politik_artikel,-politik-gastbeitrag-von-bischof-baetzing-vom-anfang-einer-neuen-zeit-_arid,2033395.html
Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar In der Weihnachtszeit zählen kleine Gesten gegen Einsamkeit