Mexiko-Stadt.. Der offizielle Weg von Guatemala in den mexikanischen Bundesstaat Chiapa führt über die Rodolfo-Robles-Brücke. Lastwagen um Lastwagen, Pkw um Pkw donnern über das imposante Bauwerk, das mit seinen fünf Pfeilern tief im Flussbett des Rio Suchiate verankert ist. Wenige Hundert Meter weiter nördlich bietet sich ein anderes Bild. Hier, an einem illegalen Grenzübergang, setzt ein Floß nach dem anderen über den Fluss, meist beladen mit Waren. Ein Fährmann manövriert mithilfe eines langen Holzstabs am Ufer. Auf seinem Floß - Holzpaletten auf großen Reifen - kauert eine Gruppe Flüchtender vom Kleinkind bis zur Großmutter. Ihre Erschöpfung ist deutlich zu erkennen. Schwer bepackt und gebeugt steigen sie an Land - wo sie von einem Mann, vermutlich einem Schleuser, erwartet werden. Wohin ihr Weg führt? Ungewiss. Einige werden die strapaziöse und gefährliche Reise bis in die USA fortsetzen wollen, andere möglicherweise in Mexiko Asyl beantragen.
Auf der Flucht: Mexiko entwickelt sich von Durchreise- zu Zielland
In der Tat hat sich Mexiko in den vergangenen Jahren von einem Durchreise- zu einem Zielland entwickelt, wie Regina De la Portilla vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen in Mexiko bestätigt. So stellten im Jahr 2023 mehr als 140 000 Männer, Frauen und Kinder einen Asylantrag in Mexiko - damit gehört das nordamerikanische Land zu den sechs Ländern mit den meisten Asylanträgen weltweit. Zum Vergleich: In Deutschland wurden 2023 nur 110 500 Asylanträge gestellt.
Das UNHCR
- Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR setzt sich für das Asylrecht und das Recht eines jeden Menschen auf Zuflucht ein, falls er vor Gewalt, Verfolgung oder Krieg in seinem Heimatland fliehen muss.
- Es beschäftigt 9300 Mitarbeitende in 125 Ländern. Zentrale Aufgabe ist der Schutz von Flüchtlingen und Staatenlosen.
- In Mexiko ist die mexikanische Kommission für Flüchtlingshilfe COMAR für die Bearbeitung von Asylanträgen zuständig. Sie wird finanziell, organisatorisch und logistisch vom UNHCR unterstützt.
Die Veränderung macht sich auch in Flüchtlingsunterkünften bemerkbar. „Früher, bis 2019, kamen hier vor allem allein reisende Männer unter. Die meisten blieben drei Tage“, berichtet eine Mitarbeiterin der Unterkunft Belen im südmexikanischen Tapachula. Inzwischen leben dort viele Familien, von den 250 Personen sind 104 Kinder. Oft bleiben sie mehrere Monate, bis über ihren Asylantrag entschieden ist.
Für die Flüchtenden ist es wichtig, eine Arbeit zu finden
Dagmara (alle Namen von Geflüchteten wurden aus Sicherheitsgründen geändert) ist eine von ihnen. Vor rund fünf Monaten floh sie mit ihrem Mann und den zwei kleinen Kindern über die guatemaltekisch-mexikanische Grenze. Die Geschichte der 22-Jährigen ist dramatisch und unterscheidet sich doch kaum von denen anderer Familien. Gemeinsam lebte das junge Paar in einer Kleinstadt in Guatemala, der Mann verdiente sein Geld als Informationstechniker. Außerdem unterstützte das Paar die Vermieterin bei Verwaltungsaufgaben, sammelte die Miete ein und überwies sie. Bis eines Tages eine organisierte Bande vor der Tür stand und Geld verlangte.
Auch was folgte, ist typisch. Das Paar ging zur Polizei, zeigte die Männer an und brachte sich vorsichtshalber bei einer Verwandten in Sicherheit. Doch das bekam die Bande mit, bedrohte die Familie. „Sie konnten nur von der Polizei wissen, dass wir dort waren“, sagt Dagmara. Durch eine List gelang es der Familie zu fliehen - mit dem Nötigsten am Leib schafften sie es nach Tapachula. Dort beantragten sie Asyl.
Im Vergleich zu vielen anderen Ländern erkennt Mexiko generalisierte Gewalt im Herkunftsland als Asylgrund an. In vielen süd- und mittelamerikanischen Staaten wie Honduras, El Salvador oder auch Haiti ist dies mittlerweile der Fall. Staatliche Strukturen sind in großen Teilen zusammengebrochen, Kartelle und organisierte Banden terrorisieren die Bevölkerung. Doch die Organisation von so vielen Flüchtlingen droht Mexiko, ein Land, das selbst mit organisierter Kriminalität zu kämpfen hat, zu überfordern.
Geflüchtete sind oft traumatisiert und brauchen Unterstützung
Die COMAR, die mexikanische Kommission für Flüchtlingshilfe, wird daher vom UNHCR, dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen unterstützt - sowohl was die Registrierung der Asylanträge, deren Bearbeitung, aber auch die Betreuung der Menschen betrifft. Viele von ihnen sind traumatisiert, brauchen medizinische und psychologische Unterstützung. Ebenso wichtig ist es für sie, eine Arbeit zu finden, denn in Mexiko gibt es - von Härtefällen abgesehen - keine finanzielle Unterstützung für Geflüchtete. Vor allem in den Industriestädten weiter im Norden werden Arbeitskräfte gesucht. UNHCR hat daher 2016 das Integrationsprogramm PIL gestartet und seither den Umzug von mehr als 48 000 Geflüchteten sowie deren Weg ins mexikanische Berufsleben betreut.
Benita wollte nie in die USA, vom American Dream - dem Traum vom sozialen und finanziellen Erfolg in den USA - hält sie nicht viel
Eine der Teilnehmerinnen ist Benita (45), die stets ein Lachen auf den Lippen hat. Die Kubanerin floh aufgrund der politischen Lage aus ihrem Heimatland. Unterwegs erlebte sie nach eigenen Worten viel „Dunkles“. „Es war schlimm“ - mehr möchte sie nicht sagen. Schließlich schaffte sie es nach Mexiko, wo sie Asyl beantragte und auch erhielt. Mittlerweile arbeitet Benita bei Urrea, einem bedeutenden Werkzeug- und Sanitärproduktehersteller in der Großstadt Guadalajara. Stolz zeigt sie in einer riesigen Halle ihren Arbeitsplatz. Dort bearbeitet sie am Computer verschiedene Bestellungen, wählt die Produkte aus, die hochautomatisiert von Roboterarmen aus den Regalen gezogen, auf Laufbänder gehoben und schließlich am Warenausgang positioniert werden. „Ich fühle mich sehr, sehr gut“, sagt sie und lacht.
Die USA bleiben ein Magnet
Im Gegensatz zu vielen anderen Kubanern zog es Benita nie in die USA, vom American Dream - dem Traum vom sozialen und finanziellen Erfolg in den USA - hält sie nicht viel. „Ich will nicht hin“, betont sie. „Was man von dort hört, klingt so stressig, dort gibt es so viel Diskriminierung.“ In Mexiko hingegen werde sie gut behandelt. Sie erhalte den gleichen Lohn wie ihre Kollegen, spreche dieselbe Sprache.
Auch wenn viele in Mexiko Asyl beantragen, bleiben die USA ein Magnet. So wurden im September 2024 fast 102 000 Einwanderer beim Versuch festgenommen, die Grenze zu den USA illegal zu überqueren.
Auch Miguel (35) wollte ursprünglich in die USA. Die Flucht hatte er aufgrund der zunehmenden Gewalt in seiner Heimat El Salvador geplant. Ein „Coyote“, ein Schleuser, sollte ihm für 16 000 Dollar helfen, später wollte er seine Familie nachholen. Doch dann hinterließen auf einmal Gangster der Mara Salvatrucha einen Zettel an seinem kleinen Laden, verlangten Schutzgeld, bedrohten die Familie - „auch die Kinder“, wie Miguel erzählt. In Todesangst brachen sie auf.
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Nach vielen Irrwegen kam die Familie 2022 bei einer Flüchtlingsunterkunft in Tijuana, nahe der berühmten Grenzmauer zu den USA an. „Es war so voll, wir mussten eine Woche auf der Straße schlafen“, erinnert sich Miguel. Doch das Warten sollte noch länger dauern - diesmal auf einen Termin, um in den USA Asyl zu beantragen. Nach fünf Monaten auf einer Warteliste bekam die Familie endlich ein Datum von den US-Behörden genannt. Der amerikanische Traum schien in greifbarer Nähe, damals im Frühjahr 2023.
Nur noch per App in die Vereinigten Staaten
„Doch dann kam auf einmal CBP One“, erzählt Miguel. Mit Einführung der App der US-Zoll- und Grenzschutzbehörde (CBP) als einziger Möglichkeit, einen Termin für einen Antrag auf Asyl in den USA zu vereinbaren, war der Platz auf der Warteliste weg. Miguel hatte nun die Wahl, per App mit Tausenden anderen täglich um die wenigen Plätze zu konkurrieren oder in Mexiko zu bleiben. Ihm fiel die Entscheidung leicht, nach einigen Wochen gab auch seine Frau den amerikanischen Traum auf und entschied sich für eine Zukunft in Mexiko.
Dann ging alles ganz schnell. Mit der Erlaubnis des Pfarrers, der die Flüchtlingsunterkunft leitet, eröffneten sie ein kleines Café auf dem Gelände, verkauften Kaffee und Kekse. Heute lebt die Familie in einer eigenen Wohnung, die 16, 13 und sieben Jahre alten Kinder besuchen Schulen, ein weiteres Café ist in Planung. Miguel ist zufrieden: „Hier haben wir Sicherheit, Bildung für die Kinder und medizinische Versorgung. Was soll ich da in den USA?“
Die Recherchereise erfolgte mit Unterstützung der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen DGVN
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