Interview - Marion Gentges (CDU) über die Schwierigkeiten, ukrainische Geflüchtete zu registrieren - und welche Hilfsangebote aus der Bevölkerung jetzt wichtig sind.

Baden-Württembergs Justiz- und Migrationsministerin Marion Gentges über Hilfe für Ukraine-Geflüchtete

Von 
Karsten Kammholz und Sebastian Koch
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Justizministerin Marion Gentges im Gespräch mit den Redakteuren Karsten Kammholz (M.) und Sebastian Koch. © Christoph Blüthner

Die baden-württembergische Justiz- und Migrationsministerin Marion Gentges (CDU) über die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine und die große Hilfsbereitschaft.

Frau Ministerin, als Sie ihr Amt vor zehn Monaten angetreten haben, waren Sie vor allem Justizministerin. Sind Sie jetzt vor allem als Migrationsministerin?

Marion Gentges: Seit dem 24. Februar, dem Tag des Angriffs auf die Ukraine, dominiert das Migrationsthema meine Arbeit. Es geht jetzt darum, mit den Kommunen, Kirchen und Religionsgemeinschaften den Zustrom im Land zu steuern. Es ist eine besondere Lage: Die Menschen aus der Ukraine können visumfrei einreisen und sich ohne das staatliche System der Flüchtlingsaufnahme in unserem Land frei bewegen.

Musikalisch engagiert

  • Marion Gentges wurde am 23. August 1971 in Haslach im Kinzigtal geboren.
  • Sie ist seit 2016 Abgeordnete des Landtags von Baden-Württemberg und seit Mai 2021 Justizministerin.
  • Gentges ist ehrenamtlich als Präsidentin des Landesverbandes der Musikschulen Baden-Württembergs tätig.
  • Sie ist verheiratet und hat eine Tochter

Wie geht Baden-Württemberg mit der besonderen Lage um?

Gentges: Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen schätzt, dass bis zu vier Millionen Menschen aus der Ukraine fliehen werden. Die EU hält sogar acht Millionen für möglich. Die Nachbarstaaten Polen und Moldau nehmen sehr viele davon auf. Nach Deutschland sind schon mehr als 100 000 eingereist, in unseren Erstaufnahmeeinrichtungen sind rund 4 500 Menschen aus der Ukraine und noch mal rund 1 500 Menschen aus aller Welt aufgenommen worden. In den vergangenen Tagen haben wir auch wieder mehr Migranten aus Syrien, Afghanistan und aus der Türkei registriert. Es wird herausfordernd.

Wir verstehen es richtig: Wie viele Geflüchtete es bald sein werden, können Sie kaum kontrollieren.

Gentges: Das stimmt. Die Menschen aus der Ukraine können bei uns visumfrei einreisen, ohne sich sofort registrieren zu müssen. Etliche Menschen kommen auf private Einladungen zu uns. Natürlich wollen wir wissen, wer ins Land kommt. Durch die ukrainische Wehrpflicht wissen wir, dass es vor allem Frauen, Kinder und ältere Menschen sind.

Welche Leistungen erhalten die Menschen hier nach der Ankunft?

Gentges: Die EU hat erstmalig die Massenzustromsrichtlinie in Kraft gesetzt. Die Geflüchteten bekommen einen Aufenthaltstitel von einem Jahr, der auf insgesamt drei Jahre verlängert werden kann. Damit erhalten sie Anspruch auf Leistungen – sie erhalten Zugang zum Arbeitsmarkt, zu Wohnraum, zu medizinischer Versorgung, zu staatlicher Bildung.

Welche Hilfe brauchen sie noch?

Gentges: Vor Ort die Unterstützung in sozialen Angelegenheiten: Kontakte, Hilfe bei Behördengängen, Fahrdienste, Kinderbetreuung, psychische Hilfe – auch für die traumatisierten Kinder. Für die Menschen in der Ukraine helfen derzeit Geldspenden mehr als Sachspenden. Die Lager sind noch voll mit Sachspenden seit der Hochwasser- und Starkregenkatastrophe im vergangenen Jahr. Vor Ort werden jetzt ganz spezielle Dinge benötigt – etwa Stromgeneratoren, die ganze Krankenhäuser versorgen können. Die gibt es nicht im Baumarkt. Geldspenden sind klar die effizienteste Hilfe.

© Christoph Blüthner

Werden die Privathaushalte mittelfristig finanziell entschädigt bei der Aufnahme von Geflüchteten?

Gentges: Die Frage der finanziellen Unterstützung ist noch nicht bis ins letzte Detail geklärt. Bei der privaten Aufnahme gibt es Rechtslücken, die wir schnell schließen müssen – auch weil wir diesen Fall so noch nie hatten. Auch die Kommunen werden finanzielle Unterstützung brauchen. Die Gespräche dazu sind aufgenommen.

Ist Ihnen überhaupt recht, dass die Menschen hier privat unterkommen?

Gentges: Wir sind tatsächlich darauf angewiesen, denn ohne diese privaten Initiativen würden wir schon viel früher an Kapazitätsgrenzen stoßen. Wir brauchen zügig mehr Platz. Wir mieten Hotels an, wir nutzen Hallen. Es braucht aber auch eine spürbare bundesweite Koordinierung von Hilfen und Unterbringung, klare Vorgaben vom Bund in Sachen Registrierung und IT, und es wird auch Geld brauchen.

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Warum ist die Bereitschaft in der Bevölkerung zur privaten Aufnahme so groß – und warum gab es sie nicht in der Flüchtlingskrise 2015?

Gentges: Da kommen mehrere Aspekte zusammen. Erstens: Jeder kann die Fluchtursachen nachvollziehen. Da fliehen Menschen ohne jede Schuld aus ihrem Land – nicht weil sie zu uns wollen, sondern weil sie sich in Sicherheit bringen wollen. Zweitens: Dieser Krieg ist uns nah, er findet in Europa satt. Die Menschen tun sich leichter, Menschen aus ihrem eigenen Kulturkreis aufzunehmen.

Manche kritisieren diesen Unterschied an Empathie zwischen damals und heute und sprechen von gesellschaftlichem Rassismus.

Gentges: Ich weiß nicht, ob man diesen Schluss so ziehen kann. Es gibt ja noch einen Grund für die starke Empathie heute: Es fliehen überwiegend Frauen und Kinder. Für mich sind gerade andere Aspekte wichtig: Neben der direkten Hilfsbereitschaft ist die Spendenbereitschaft so hoch wie noch nie, um den Ukrainerinnen und Ukrainern zu helfen. Ich freue mich sehr, dass das so ist. Herausfordernd wird sein, diese Hilfe und positive Grundstimmung über einen langen Zeitraum aufrecht zu erhalten. Wir haben es hier mit einem Marathon zu tun, nicht mit einem Kurzstreckenlauf.

Gibt es ein politisches Interesse, die Menschen schnell in den Arbeitsmarkt zu integrieren?

Gentges: Sie können hier theoretisch sofort eine Arbeit aufnehmen. Doch unser Interesse steht nicht im Vordergrund. Viele aus der Ukraine äußern heute den Wunsch, wieder nach Hause zu können. Wir wissen aber nicht, wie lange der Krieg dauert, wie das Land nach einem Krieg aussieht und ob wir es mit einem geteilten Land zu tun haben.

Immer wieder kommen Kinder ohne ihre Eltern ins Land. Eine besondere Herausforderung?

Gentges: Wir haben in Freiburg mehr als 200 Kinder und Betreuer aus einem Waisenhaus aufgenommen. Aber es kommen auch Kinder ganz ohne Begleitung. Sie werden an der Grenze von ihren Eltern auf den Weg geschickt, manche werden auf der Flucht von den Müttern getrennt. Diese Kinder mit dieser traumatischen Erfahrung sollten vielleicht nicht privat aufgenommen werden, sondern über das Jugendamt in professionelle Hände gegeben werden.

Wie nehmen Sie die Russland-deutschen im Land momentan wahr?

Gentges: Der Krieg in der Ukraine ist Putins Krieg. Es ist nicht der Krieg der Russen, und er ist erst recht nicht der Krieg der Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion. Das wird auch von den meisten Russlanddeutschen so gesehen. Allerdings gibt es auch Menschen, die Putin glauben. Klar ist aber auch, dass nicht das russische Volk in Verantwortung gezogen werden darf. Daher wehre ich mich auch ganz entschieden dagegen, wenn Menschen aufgrund ihrer russischen Herkunft oder Sprache angefeindet oder diskriminiert werden.

Ehemalige Mitarbeit ehem. Chefredakteur

Redaktion Reporter in der Lokalredaktion Mannheim & Moderator des Stotterer-Ppppodcasts

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