Viernheim. „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“ Der Satz ist in aller Munde. In politischen Debatten wie im Privaten wird auf die Freiheit der Rede gepocht. Auch Susanne Babila begegnet dem Ausspruch des Öfteren – in ihrem Team beim Südwestrundfunk. Weil Meinungsfreiheit bewahrenswert ist und Bürger sich nicht mehr gehört fühlen, ist die Journalistin nach Viernheim gekommen. Im Bürgerhaus hat sie mit Stefanie Roth ein völlig neues Format getestet. „Ein freier Austausch von Meinungen, bei dem jeder ausreden darf, in einem geschützten Rahmen“, erklärte die Mit-Sprecherin des Viernheimer Appells das Prinzip.
Stadtpolizei sichert Veranstaltung am Eingang ab
Wie brisant dieses Thema des Viernheimer Appells war, zeigte ein Blick an den Eingang des Bürgerhauses: Etliche Einsatzkräfte der Stadtpolizei hatten sich dort in Stellung gebracht. „Migration“ ist ein heißes Eisen, eine sachliche Debatte keineswegs selbstverständlich. Dieser Herausforderung nahmen sich die Initiatoren ganz bewusst an, 50 Interessierte folgten schließlich ihrem Aufruf.
„Ich wünsche mir, dass wir unsere Meinung zur Migration sagen können, ohne uns gegenseitig zu bewerten oder in eine Ecke gedrängt zu werden, in der wir uns nicht wohlfühlen“, betonte Stefanie Roth zu Beginn. Wenn Menschen den Eindruck hätten, ihre Meinung nicht mehr sagen zu dürfen, hänge dies auch damit zusammen, dass wir „alle verlernt haben, zuzuhören und eine andere Ansicht stehenzulassen“.
Wie vielfältig Meinungen aussehen können, demonstrierten die Veranstalter anhand von 15 Behauptungen. Die „Thesen zur Migration“ kamen dabei nicht von ungefähr. Acht Fahrradbriefkästen hatten die Ehrenamtlichen des Viernheimer Appells im Stadtgebiet aufgestellt. Von Anfang August bis Anfang September formulierten Passanten ihre Sichtweise zum Thema und füllten die Briefboxen. „35 Rückmeldungen sind eingegangen“, berichtete Stefanie Roth. Teils habe es sich um sehr fundierte Stellungnahmen gehandelt, darunter 20 „mehrseitige Briefe“.
Aus den Rückläufern wurden 15 Thesen herausgearbeitet, denen die Besucher des Bürgerhauses per Handzeichen zustimmen konnten. „Geflüchtete sollten arbeiten dürfen“, fand auf Anhieb viel Zuspruch. Doch kam auch Kritik der Bürger zum Ausdruck, insbesondere derer, die in der Nähe der Unterkünfte leben. Dass es sich nicht ausschließlich um Kriegsflüchtlinge handle, fand ein Teil der Besucher. Kritisch hinterfragt wurden auch die „Anreize, nach Deutschland zu kommen“. Ein weiterer Punkt war die Einbeziehung der Bürger, die verbesserungswürdig sei.
Nach einem ersten Stimmungsbild ging das Format in den zweiten Teil über. Hierzu waren mit Sophia Fechter und Boris Kühn zwei Experten vor Ort. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Demokratiezentrum Hessen der Uni Marburg und er wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Migration Policy Research Group der Uni Hildesheim. Gemeinsam beleuchteten sie vier ausgewählte Thesen zur Migration in jeweils fünf Minuten.
Eine wesentliche Rolle spielten dabei Statistiken – so auch bei der Frage, ob eine Frau „Angst haben müsse, nachts das Haus zu verlassen“. Die Forscher räumten ein, dass Geflüchtete in der Kriminalstatistik überrepräsentiert seien. Ein differenzierteres Bild ergebe sich wiederum, wenn man auf Kriterien wie Wohnort, Sozialisation und Alter abstelle. Der Großteil der Übergriffe finde im Familien- und Bekanntenkreis statt – wie auch schon vor 20 Jahren. Gravierende Erfahrungen hat dennoch mancher Bürger gemacht – wie jener junge Mann, der von sexuellen Übergriffen auf weibliche Bekannte berichtete. „Die Ängste sind durchaus berechtigt“, so seine Einschätzung. Auch wurde eine stärkere Verankerung der Polizei in Viernheim gefordert.
Dass Fachkräfte gebraucht werden, ist für viele ein Fakt
Positives gab es auch: Migranten im Allgemeinen und Geflüchtete im Speziellen würden als Fachkräfte benötigt, hieß es fast unisono – auch wenn die Meinungen darüber, ob Deutschland ein „Einwanderungsland“ sei, auseinandergingen. Eine Vielzahl an Problemen sei zudem hausgemacht: bürokratische Hürden, fehlende Anerkennung von Abschlüssen, aber auch Leerstand von Immobilien und das Bedürfnis nach immer mehr Wohnfläche.
Besonders gut funktioniert Integration bei der Viernheimer Tafel: Hier bringen sich Menschen verschiedenster Herkunft ein. Aus mancher „Tandem-Partnerschaft“ zwischen Schutzsuchenden und Einheimischen sei außerdem eine Freundschaft entstanden. Und was viele nicht wüssten: „Viele Geflüchtete hätten gerne mehr Kontakt zu Deutschen!“ Moderatorin Susanne Babila zeigte sich „sehr berührt“ vom Verlauf des Abends. Das neue Format sei eine „tolle Übung“ für ein gemeinsames Miteinander.
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