Soziales

Immer mehr Kunden brauchen die Viernheimer Tafel

Jürgen Gutperle, Chef des Viernheimer Sozialzentrums, spricht im Interview über die große Belastung der ehrenamtlichen Mitarbeiter bei der Tafel. Und er überrascht mit einem Stimmungsbild

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Martin Schulte
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Jürgen Gutperle und seine Kollegen beim Sozialzentrum lassen die Köpfe nicht hängen. © Bernhard Kreutzer

Viernheim. Kriege, Krisen, Zuwanderung, steigende Lebensmittelpreise, zunehmende Bedürftigkeit auch in der deutschen Bevölkerung - die Tafel im Viernheimer Sozialzentrum bekommt immer mehr Zulauf. Schafft sie das auf Dauer? Wir sprechen mit Jürgen Gutperle, dem ehrenamtlichen Geschäftsführer der Einrichtung der katholischen Kirche. Am Ende wird es dann auch politisch.

Herr Gutperle, wie hat sich die Situation bei der Tafel in den vergangenen Jahren verändert?

Jürgen Gutperle: In den letzten zwei, drei Jahren hat sich die Situation dramatisch verändert. Um Zahlen zu nennen: Vor der Corona-Krise, also bis 2019, hatten wir etwa 160 Kunden hier.

Einmal pro Woche?

Gutperle: Nein, damals war die Tafel noch zwei Mal in der Woche geöffnet. 2021 waren wir dann schon bei 233 Kunden pro Ausgabetag, 2022 waren es 282. Ende 2023 haben wir 378 Kunden verzeichnet. Das heißt, innerhalb eines Jahres sind fast 100 Menschen dazugekommen.

Können Sie das erklären?

Gutperle: Zunächst einmal war Corona sicherlich ein Auslöser für die Zunahme. Eine weitere Ursache mit deutlichen Folgen für uns ist aber Russlands Krieg gegen die Ukraine.

Deutsche bilden die größte Gruppe. Sie machen fast die Hälfte der Kundschaft insgesamt aus. Ihr Anteil wächst ebenfalls stetig.
Jürgen Gutperle Chef des Viernheimer Sozialzentrums

Welche Nationalitäten kommen zur Tafel?

Gutperle: Deutsche bilden die größte Gruppe. Sie machen fast die Hälfte der Kundschaft insgesamt aus. Ihr Anteil wächst ebenfalls stetig. Die Menschen aus der Ukraine bilden inzwischen die zweitgrößte Gruppe. 128 Leute zählen aktuell zur Kundschaft. Mit 52 Menschen sind türkische Mitbürgerinnen und Mitbürgern die dritte große Gruppe. Wir versorgen außerdem Menschen aus Afghanistan und Syrien. Allein in den vergangenen zwei Wochen sind 30 geflüchtete Syrerinnen und Syrer hinzugekommen. Und wir müssen davon ausgehen, dass diese Gruppe weiterhin wächst und uns in den nächsten Monaten noch sehr beanspruchen wird.

Heute ist kein Ausgabetag, trotzdem wird in der Halle, in der die Waren sortiert werden, fleißig gearbeitet.

Gutperle: Ja, es kommt ständig Ware, die bearbeitet werden muss.

Die Viernheimer Tafel schlägt pro Monat 25 bis 30 Tonnen Ware um. © Bernhard Kreutzer

Wie viele ehrenamtliche Mitarbeiter hat die Tafel?

Gutperle: Im Sozialzentrum insgesamt sind es rund 160 Frauen und Männer. 80 bis 90 davon helfen regelmäßig bei der Tafel.

Der Andrang ist größer geworden, die Arbeit mehr. Kommen dementsprechend auch neue Helfer dazu, oder werfen manche auch die Brocken hin?

Gutperle: Nein, die Zahl ist, von kleinen Veränderungen abgesehen, sehr stabil. Viele der Helfer und Helferinnen kommen sogar drei, vier Mal in der Woche. Wir haben zwei Ausgabetage, aber es wird an fünf Tagen die Woche gearbeitet.

Nähert sich die Mannschaft der Erschöpfung, es geht ja auch um körperliche Arbeit?

Gutperle: Ja, wir haben zuletzt etwas auf die Bremse getreten. Die Tafel schlägt pro Monat 25 bis 30 Tonnen Ware um. Aber das Engagement der Leute ist ungebrochen, auch wenn die Belastungsgrenze erreicht ist.

In einer Ausgabewoche kommen durchschnittlich 400 Kunden zur Tafel.
Jürgen Gutperle Chef des Viernheimer Sozialzentrums

Also die Stimmung ist gut, aber die Leute sind am Anschlag?

Gutperle: Ja, wir sind guter Dinge, aber wir sind am Anschlag. Wegen der vielen Kunden haben wir im Mai 2023 die Ausgaben eingeschränkt. Zuvor konnte ein Kunde zwei Mal pro Woche kommen, jetzt nur noch ein Mal. In einer Ausgabewoche kommen durchschnittlich 400 Kunden zur Tafel.

Wie sehen Sie die Zukunft?

Gutperle: Vergangenes Jahr ist die Zahl der Kunden um 100 gestiegen. Wenn diese Entwicklung anhält, müssen wir uns die internen Abläufe erneut anschauen und sehen, ob und wie wir für noch mehr Kunden sorgen können. Es gibt Tafeln, die nur alle zwei oder drei Wochen geöffnet haben. Aber solch einen Schritt möchten wir so lange wie möglich vermeiden, damit wir die Menschen versorgen können. Jeder soll ein Mal pro Woche hierherkommen können.

Wie steht es um den Nachschub der Lebensmittelmärkte?

Gutperle: Wir sind sehr dankbar. Die Ware hat bisher immer gereicht. Wir fahren mittlerweile über 30 Märkte und kleinere Geschäfte an.

Kommt es zu Gesprächen der Helfer mit den Kunden?

Gutperle: Aber ja. Das Zwischenmenschliche ist uns als katholische Kirche in Viernheim sehr wichtig, deshalb auch die Anbindung an das Sozialzentrum. So machen wir etwa vor Weihnachten oder zu Ostern Gesprächsangebote. Es gibt auch Mitmachaktionen, bei denen wir versuchen, die Sprachbarrieren zu überwinden und abzubauen. Wir sprechen mit den Leuten über ihr Schicksal, ihre Flucht und fragen sie, was sie hier erwarten. Wir haben eine kleine Gruppe, die sich speziell um diesen Aspekt kümmert, diese Kollegen sind auch an jedem Ausgabetag präsent.

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Das klingt nach Betreuung über die bloße Versorgung hinaus.

Gutperle: Ja, so ist es.

Die Zahl der Menschen, die sich nicht mehr aus eigener Kraft versorgen können, wächst seit langem. Wie beurteilen Sie das politisch?

Gutperle: Zunächst empfinden wir es als Verpflichtung, diesen Menschen zu helfen. Aber dass in einem vergleichsweise reichen Land wie dem unserem so viele Menschen von ihrer Arbeit allein nicht mehr leben können, das bezeichne ich als skandalös. Zumal für einen Staat, der sich Sozialstaat nennt. Um das auch noch mit einer weiteren Zahl zu untermauern: Wir hatten im vergangenen Jahr 23 520 Kundenbesuche.

Redaktion Reporter.

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