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Café Rall in Viernheim blickt auf 75 Jahre zurück

Eigentlich wollte Christine Rall einen anderen beruflichen Weg einschlagen. Doch nun führt sie in dritter Generation das Café Rall in Viernheim, das sein 75-jähriges Bestehen feiern kann

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Kathrin Miedniak
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Christine Rall an ihrem Lieblingsort im Café: hinter der Theke. © Kathrin Miedniak

Viernheim. 40 Reichsmark kostete es Walter Rall. Und eine Portion Mut. Dann hielt der Viernheimer die Genehmigung in den Händen, die es ihm erlaubte, am 1. März 1947 seine eigene „Schankwirtschaft mit Kaffee“ zu eröffnet. Zunächst nur von freitags bis sonntags. Und bezahlt wurde noch mit den Essensmarken der Nachkriegszeit. Aber das Café Rall war gegründet - und steht seitdem den Viernheimern mit Kuchen und Torten zur Seite. In guten und in schlechten Tagen.

75 Jahre später legt Walter Ralls Enkelin Christine die vergilbte Genehmigung auf einen Tisch im Garten des Cafés. Seit 2013 leitet sie den Familienbetrieb - in dritter Generation nach ihrem Vater Günter. Geplant war das nicht. Der Traumberuf der 43-Jährigen war Hotelfachfrau. Und das wurde sie auch. Sogar Meisterin. Das Café ihrer Eltern würde verkauft werden, das war klar. Keines der vier Kinder hatte Interesse. Bis zu dem Tag, als das Mannheimer Traditionscafé Kienle schloss.

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„Ich habe gesehen, wie vor dem Laden die Rührschüsseln zum Mitnehmen standen. Da kamen mir die Tränen. Ich dachte mir: So wird es auch meinen Eltern gehen“, erzählt Rall. „Das leere Schaufenster verfolgte mich nachts in meinen Träumen.“ Die Viernheimerin kündigte ihren Job im Hotel Maritim in Mannheim und stieg im heimischen Betrieb ein - anfangs noch mit ihren Eltern. „Das erste Jahr zusammen war hart“, sagt sie stöhnend. Dann muss sie aber lachen. Wie so oft. „Mein Papa hat mir mitgegeben: Mit Humor geht alles besser.“ So gelingt der Neustart im elterlichen Betrieb dann doch. Das Café Rall ist fürs Erste gerettet - zur Freude vieler Kunden.

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Die Terrasse des Cafés bietet Platz für 60 Menschen. Weitere 120 drinnen im Saal, in dem häufig Jahrgangstreffen oder Trauercafés stattfinden. Vor der Tür stehen Autos mit Kennzeichen aus der Pfalz oder Nordhessen. „Sonntags haben wir zu 70 Prozent Gäste, die nicht aus Viernheim kommen“, sagt Rall. „Die Leute fahren kilometerweit für unseren Kuchen.“ Sie lächelt: „Das macht mich schon stolz.“

Dazu gebe es noch die anderen Kunden: die Viernheimer, die oft schon seit Jahrzehnten der Konditorei die Treue halten. Für die ein Stück Kuchen „vom Rall“ eine Familientradition ist. Die die Café-Chefin schon kennen, seit sie als Kind im Verkauf aushalf. Und die ihr oft tiefe Einblicke in ihr Leben gewähren. „Ich kriege ganz viel mit hinter der Theke: jedes neugeborene Kind, jeden Todesfall, jede Hüft-OP, Freud und Leid.“ Viele Schicksale berühren sie. Wie der Mann, der einen Termin für ein Trauercafé ausmachte - für seine Frau, der Rall noch am Wochenende zuvor Kuchen verkauft hatte. „Da habe ich mitgeweint“, erzählt sie freimütig. Manchmal fühle sie sich „gleich an zweiter Stelle nach dem Pfarrer“, sagt sie, als Seelsorgerin. Aber es sei gerade das, was sie am meisten an ihrem Café liebe.

„Ich bin gern vorne an der Theke, bei den Menschen.“ Um ihnen mit etwas Süßem beizustehen, egal was kommt. „Es ist nie langweilig“, sagt sie lachend. „Hier ist manchmal Drama, Komödie oder sogar Krimi: wie letztens, als ich einem Dieb nachgerannt bin, der einen Geldbeutel von einem Tisch geklaut hat.“

Doch das Führen der Konditorei geht weit über Kundengespräche an der Theke hinaus. Das wird an diesem Nachmittag im Café-Garten spätestens klar, als erst der Getränkelieferant auf Ralls Schulter tippt und dann ein Scheppern aus Richtung der Kaffeeküche sie aufspringen lässt. Rall beschäftigt sechs Konditoren, dazu drei Auszubildende, zwei Verkäuferinnen und eine Bedienung. Um 7 Uhr morgens jeden Tag außer am Ruhetag montags legt das Team in der Backstube hinter Ralls Elternhaus los und backt Torten, Kuchen, Fein- und Dauergebäck, erstellt Pralinen und Petit Fours, im Winter Unmengen an Plätzchen.

Was zu tun ist, schreibt Rall am Abend vorher von Hand auf den „Backzettel“ - nachdem sie von ihrem Obsthändler erfragt hat, ob die Zwetschgen sich derzeit schön vom Stein lösen oder die Aprikosen süß sind. Wie viele Kuchen an einem normalen Sonntag oder an einem Großkampftag wie Muttertag gebraucht werden, verrät ihr die über Jahre verfeinerte Kalkulation ihres Vaters. Daran bemisst sie auch, wie viel sie für eine Woche bestellt: 840 Eier, rund 150 Kilo Mehl, etwa 50 Kilo Zucker und einiges mehr. Zu all der Arbeit im Café kommen noch Ralls Aufgaben als stellvertretende Obermeisterin der Innung. „Ohne meine Geschwister und meine Eltern, die immer noch mithelfen, würde ich das manchmal nicht schaffen“, gesteht die 43-Jährige.

„Trotzdem: Ich bin froh, dass ich das Café übernommen habe. Ich würde es nicht anders wollen.“ Nicht einmal während Corona, als sie vom Thekenverkauf leben musste, kommen ihr Zweifel. „Ich habe zu meinem Team gesagt: Mein Opa hat das Café direkt nach dem Krieg gegründet, als noch alles in Deutschland kaputt war. Da schaffen wir es auch durch eine Pandemie!“ Sie will so weitermachen, wie ihre Familie begann: Mit Klassikern wie Schwarzwälder Kirsch und Frankfurter Kranz, aber auch mit Mut für neue Kreationen - und mit dem Heranführen der vierten Generation. Mit ihrer Nichte verschwindet Rall an diesem Tag in der Backstube, um gemeinsam Marzipanschweine herzustellen. Und vielleicht die Liebe zum Familienbetrieb zu wecken.

Freie Autorin

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