Schriesheim. Im „Goldenen Hirsch“ , mit mehr als 350 Jahren eines der traditionsreichsten noch betriebenen Gasthäuser der Region, tut sich was: Der Wilhelmsfelder Gastronom Tom Böhm hat die Führung des Lokals übernommen. Er ist zwar bereits seit längerem formal Pächter, überließ jedoch mit Rücksicht auf seine anderen Betriebe die Leitung vor Ort in Schriesheim dem bekannten Wirt Michael Adamietz.
Doch Adamietz verabschiedete sich im Frühjahr. Die angeschlossene Weinbar, vor einem Jahr eröffnet und von seiner Frau geführt, war zunächst zu, ist aber längst wieder geöffnet, unter neuem Namen: „Kleiner Hirsch“. Es läuft also alles wieder normal hier oder, um im Bild zu bleiben: Der „Hirsch“ röhrt weiter. Ein neues Kapitel in der über 350 Jahre währenden Geschichte des Hauses.
Der „Hirsch“ liegt historisch gesehenen auf uralter Scholle. Im 13. und 14. Jahrhundert befindet sich an diesem Ort der Marstall des Herrschergeschlechtes der Strahlenberger. Auf den Trümmern eines im Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) abgebrannten Gutshofes errichtet der aus Heppenheim kommende Küfer Peter Kling das Gebäude in seinem Zuschnitt, wie er uns im Großen und Ganzen heute noch begegnet.
1662 - diese Jahreszahl steht im Logo des Betriebes - eröffnet Kling ein Lokal, das allerdings noch nicht das Schildrecht besitzt, also nur Getränke und keine Speisen ausgeben und auch keine Übernachtungen anbieten darf. Fünf Generationen lang bleibt es ein Bierlokal.
Im Jahr 1858 erhält der „Hirsch“ seinen heutigen Namen
In der 1848er Revolution ist der damalige Wirt Karl Hoffmann Führer der Bürgerwehr in Schriesheim und muss daher nach Scheitern der Revolution 1849 nach Amerika fliehen. Das Lokal übernimmt sein Bruder Peter. 1853 werden mehrere Fremdenzimmer eingerichtet, indem die Einfahrt zur Straße hin überbaut wird. 1858 kauft Hoffmann schließlich den Namen (das „Schildrecht“) „Zum Goldenen Hirsch“ von einem aufgegebenen Wirtshaus an anderer Stelle der Altstadt.
Bald etabliert sich der „Hirsch“ als Herberge. Ein legendärer Stammgast: ein Metzger aus Erbach mit dem Spitznamen „Schaffe-in-mir-Gott“. Der Mann, der alle fünf Wochen einkehrt, trägt als einziges Ausweispapier seinen Konfirmandenspruch mit sich: „Schaffe in mir Gott.“ Die Mehrzahl der Gäste bilden jedoch Handwerksburschen. Wer das nötige Geld hat, bekommt ein Zimmer im Haus, die anderen übernachten im Herbergsraum neben dem Brauhaus. Wer Läuse mit sich trägt, muss im Stall schlafen, hat aber die Chance, gegen Gebühr vom Hausknecht entlaust zu werden.
1866 übergibt Peter Hoffmann den „Hirsch“ an seinen Schwiegersohn Georg Trippmacher, der in Schriesheim schnell den Spitznamen „Faulpelz-Wirt“ weg hat. Trippmacher legt nämlich die Brauerei still, verpachtet die Wirtschaft und verkauft sie schließlich 1878 an Jakob Rufer, Spross einer Familie, die fortan fast ein Jahrhundert lang die Geschicke des Lokals lenken wird.
Rufer saniert das Gebäude von Grund auf und gestaltet es darüber hinaus auch um. 1890 lässt er Scheune und Stall abreißen und von Neuem aufbauen. Das ehemalige Brauhaus vermietet er an die jüdischen Futtermittelkaufleute Marx und Blumenfeld. Nach Jakob Rufers Tode 1897 wird das Lokal zunächst von seiner Witwe und - nachdem dieser seine Militärdienstzeit beendet hat -von ihrem Sohn Peter weitergeführt.
Peter Rufer ist vor seiner Militärzeit in einem Weinheimer Weingut tätig, entwickelt als Wirt daher den „Hirsch“ von einer Bierwirtschaft zu einem Weinlokal. Geschäftstüchtig wie er ist, weiß er, dass zu einem solchen Weinlokal die entsprechende romantische Atmosphäre gehört. So lässt er 1914 mit Unterstützung des Denkmalamtes von der Fassade den Verputz entfernen und das Fachwerk freilegen sowie ein kunstvoll geschmiedetes Schild anbringen.
Auch im Innern gibt es grundlegende Veränderungen. Das Nebenzimmer wird vergrößert und nach dem Ersten Weltkrieg mit Hilfe von Stilmöbeln und Butzenscheiben in eine gemütliche Weinstube verwandelt. Als „Hirschstübl“ wird es über Schriesheim hinaus bekannt.
Ausschank von Wein im Wert von 300 Millionen Reichsmark
Durch Vereinigung der so genannten Trinkstube mit einem kleineren Raum wird 1902 im ersten Obergeschoss ein Tanzsaal geschaffen. 1922 wird dieser um den bisherigen Heuboden über dem Stall nochmals erweitert und bekommt eine höhere Decke. Der Umbau kostet 150 Millionen Reichsmark - denn gerade ist die Inflation auf ihrem Höhepunkt. Zur Einweihung schenkt Rufer denn auch Wein im Wert von 300 Millionen Reichsmark aus.
Seit seiner Gründung im Jahre 1903 ist der „Hirsch“ auch Vereinslokal des Kraft-Sport-Vereins (KSV) Schriesheim. Wirt Rufer wirkt als einer seiner aktivsten Förderer, beteiligt sich gar selbst an vielen seiner Aktivitäten. Eine seiner bekanntesten wird beim Sportfest des Vereins im Jahre 1926, als er für die - wie man heute sagen würde - „Show-Einlage“ sorgt, gemeinsam mit dem späteren Vorsitzenden Georg Abel. Was die beiden damals genau abziehen, ist heute nicht mehr bekannt. Überliefert ist darüber alleine folgender Reim: „Der Hirschwirt haut dem Abel/ Eins aufs Habel/ Dass ihm wird ganz miserabel.“ 1938 trennt sich Peter Rufer vom „Hirsch“ und tauscht ihn mit Heinrich Wenzel, der ihn fortan weiterführt, gegen dessen Wohnhaus am Ortsrand ein.
Mit Wiedergründung des 1933 verbotenen KSV, die 1946 natürlich ebenfalls hier stattfindet, wird der „Hirsch“ erneut Dreh- und Angelpunkt des Vereinslebens. Hier ist es, wo nicht nur Sitzungen abgehalten und Feste gefeiert, sondern auch das Training und die öffentlichen Kämpfe ausgetragen werden. Das Training findet im so genannten „Pferdestall“ statt. In diesem Bereich liegen auch die Duschen, die damals aus einem einfachen Verschlag bestehen. 1952 wird im Vorraum zur Ringer- und Stemmerhalle ein Badeofen aufgestellt, den der Schriesheimer Fabrikant Albert Wagner stiftet. „Diese Dusche erfreut sich der besonderen Beliebtheit unserer Sportler“, lautet eine zeitgenössische Darstellung.
Auch die Rundenkämpfe finden im „Hirsch“ statt, und zwar im ersten Obergeschoss, dem Tanzsaal. Für die Aktiven ist es jedes Mal eine gigantische Anstrengung, die aus einem Stück bestehende, sieben mal sieben Meter große und auf Grund des Füllmaterials (Seegras) unheimlich dicke Matte die enge und steile Treppe nach oben zu transportieren.
Im Tanzsaal werden die Kämpfe der Ringer ausgetragen
Die Location ist auch mehrmals Anlass für Auseinandersetzungen mit dem Verband. Nachdem es bei einem Kampf Mitte der 1960er Jahre zu einer Schlägerei zwischen den Anhängern der einzelnen Mannschaften kommt, verhängt der Verband ein Auftrittsverbot für drei Kämpfe im „Hirsch“. Der KSV wechselt in den „Deutschen Hof“ am anderen Ende der Straße. Nach einem Kampf zwischen dem Schriesheimer Rudi Schmitt und dem aus Ladenburg stammenden Deutschen Meister Sauer kommt es jedoch auch hier zu einer Schlägerei und somit ebenfalls zu einem Auftrittsverbot. Nun wechselt der KSV in den an der Landstraße (B 3) liegenden „Adler“ in den damals im ersten Obergeschoss bestehenden Tanzsaal.
1969 verkauft Wenzels Witwe den „Hirsch“ an die Winzergenossenschaft, die ihrerseits den Gaststätten-Teil 1996 an den Mannheimer Teppich-Unternehmer und Mäzen Peter Bausback veräußert. Dieser gestaltet den „Hirsch“ im Innern um und entwickelt ihn zu einem Speiselokal. Pächter Tom Böhm will diese Tradition nun fortsetzen.
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