Seckenheim. Mit dem sogenannten „Euthanasie“-Programm der Nationalsozialisten („Aktion T4“) wurden pflegebedürftige Menschen mit körperlichen und geistigen Gebrechen als „lebensunwert“ eingestuft und ermordet. Über zwanzig Seckenheimerinnen und Seckenheimer jeden Alters, über tausend Mannheimer und deutschlandweit mehr als eine Viertel-Million Menschen wurden durch Vergasung, Injektionen oder andere Methoden Opfer unfassbarer Taten, was die Mörder des NS-Staats mit „Rassenreinheit“ und „sozialer Hygiene“ rechtfertigen wollten.
Nach einem Vortrag von Lea Oberländer im vergangenen Jahr, die sich mit diesem ersten industriellen Massenmord der Geschichte in ihrer Dissertation (2020) auf der lokalen Ebene befasste, bildete sich ein Arbeitskreis (AK) im Stadtteil Seckenheim. 12 engagierte Bürgr begannen damit, dieses dunkle Kapitel in ihrem Heimatort aufarbeiten und für die Seckenheimer Opfer ein würdiges Gedenkens erreichen will. Dieser Gruppe gehören interessierte Bürgerinnen und Bürger aus der Erlöser- und katholischen St. Aegidiusgemeinde, dem Historischen Förderverein und der Ortspolitik an. Jetzt präsentierte der AK erste Ergebnisse.
Ganz bewusst sollen die Opfer, so der AK, nicht anonym bleiben, weil sie unbescholtener Teil der Ortsgesellschaft waren. Es müsse ein für allemal klar sein, dass körperliche oder psychische Probleme und Erkrankungen keine Rechtfertigung für Mord sein dürfe, so der AK. Meist waren sie als Patienten in „Heil- und Pflegeanstalten“, etwa in Weinheim, Wiesloch oder Mosbach untergebracht. Aus schriftlichen Quellen geht hervor, dass manche Familien sich wehrten oder die Angehörigen annahmen, man wolle ihnen helfen. Es gab dort zwar Aufenthaltszeiten, aber die Tötungsabsichten der „Aktion T4“ wurden nach der Patientenverlegung nach Grafeneck oder Hadamar, wo mit Gas, Medikamenten oder Hungerkost getötet wurde, zielgerichtet fortgesetzt.
Die Aktenlage zeige, dass Seckenheimer Euthanasieopfer zumeist in der Tötungsanstalt Grafeneck (Nähe Reutlingen) umgebracht wurden. Die Todesursache in den Unterlagen wurde gefälscht, um Fragen zu unterdrücken. Nachforschungen waren ohnedies unmöglich, da der Leichnam umgehend verbrannt wurde. Die Asche wurde zum Teil vor Ort beerdigt oder den Angehörigen gegen Gebühr übergeben. Daher konnten wenige Euthanasieopfer in Seckenheim bestattet werden.
Euthanasie-Opfer in Mannheim-Seckenheim: Arbeitskreis forscht auf der Grundlage der Arbeit von Lea Oberländer weiter
Auf Grundlage der Informationen von Lea Oberländer und aus dem Marchivum forschte der Seckenheimer AK weiter. Die recherchierten 21 Namen wurden mit dem Ortssippenbuch abgeglichen, die Kirchenbücher wurden eingesehen, es wurde nach Familienverbindungen gesucht und es wurden zum Teil passende Taufdaten entdeckt, und zwar von bislang 22 Menschen aus Seckenheim.
Philipp Bauder (ermordet im Alter von 48 Jahren), Friedrich Heinrich Blümmel (17), Margarete Blümmel (44), Harro Lothar Böttinger (22), Frieda Bruckert (34), Max Josef Falter (22), Hedwig Maria Geipel (12), Emilie Gersbach (49), Maria Kern geborene Alter (48), Ludwig Hermann (52), Philipp Jacob Markmann (80) Ernst Rath (38), Emma Rudolf (29), Maria Anna Schäfer (47), Margarete Schreckenberger (35), Theobald Schwab (63), Emil Leonhard Seitz (48), Irmgard Seitz (7), Katharina Seitz geborene Kammerer (66), Friederike Elisabeth von Söhnen geborene Heiling (41) und Philipp Bernhardt Spohn (66).
Euthanasie-Opfer in Mannheim-Seckenheim: An ihr Schicksal erinnern virtuelle Stolpersteine
Die Daten auf virtuellen Stolpersteinen sind auf der Homepage der Erlösergemeinde: https://sued.ekma.de/erloesergemeinde/ak-euthanasie-in-seckenheim zu finden. Es ist auch denkbar, dass die unvollständigen Daten fehlerhaft sind oder es Verwechslungen gibt. Deshalb, so die Hoffnung, sucht der Arbeitskreis Kontakt zu noch lebenden Familienangehörigen, die ein Interesse am Gedenken haben oder sogar weitere Informationen beisteuern könnten. Diese mögen sich bitte per Mail an viola.goetz@kbz.ekiba.de wenden.
Der Arbeitskreis möchte ausdrücklich betonen, dass es dabei nie um eine Schuldfrage gegenüber der Verwandtschaft gehen kann. Vielmehr soll deutlich werden, dass es durch NS-Verordnung aus Berlin nahezu unmöglich war, sich dieser Tötungsmaschinerie des Nazi-Regimes entgegenzustellen oder zu entziehen, was auch größtenteils wohl auf die ausführenden Beamten oder das medizinische Personal zutraf. Angehörige und Öffentlichkeit wurden getäuscht, eine kritische Presse oder Berichterstattung gab es nicht.
Euthanasie-Opfer in Mannheim-Seckenheim: Gänzlich unbekannt waren die Verbrechen schon damals nicht
Gänzlich unbekannt war das Euthanasieprogramm indes nicht, wie eine Predigt des Münsteraner Bischofs von Galen vom 3. August 1941 belegt, als er von der Kanzel herunter sagte, dass er seit einigen Monaten Berichte höre, wonach Pflegebedürftige auf Anordnung von Berlin zwangsweise abgeführt würden. Regelmäßig erhielten die Angehörigen kurz danach die Mitteilung, der Kranke sei verstorben, die Leiche verbrannt worden. Da ein derartiges Vorgehen nicht nur dem göttlichen und natürlichen Sittengesetz widerstreite, sondern auch Mord nach § 211 des Reichsstrafgesetzbuches sei, forderte Galen, dieses Vorgehen zu beenden.
Dass sich danach kaum etwas änderte, zeige, dass die Nazi-Machthaber den Rechtsstaat nicht ernst nahmen. Auch deshalb, so die Mitglieder des AK, wolle man gerade auch heute auf solche Gefahren durch antidemokratische Kräfte aufmerksam machen. Um an dieses Kapitel unsäglicher deutscher Geschichte zu erinnern und als Mahnung für Gegenwart und Zukunft, will der Arbeitskreis eine Stele zur Erinnerung und Mahnung in Seckenheim errichten. Wo und wann dies der Fall sein kann, wollen die Seckenheimer als einen der nächsten Schritte erarbeiten.
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