Erinnerungskultur

Wie in Mannheim-Seckenheim die Geschichte der NS-Krankenmorde aufgearbeitet werden soll

Historischer Verein, Kirchen und Heinrich-Vetter-Stiftung wollen im Mannheimer Stadtteil Seckenheim einen Arbeitskreis zur Erinnerung an die Opfer der NS-Krankenmorde gründen. Wie jetzt ein erster Anstoß gemacht wurde

Von 
Hartwig Trinkaus
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Historikerin Lea Oberländer bei ihrem Vortrag. © Hartwig Trinkaus

Mannheim. Jene Menschen, und es waren recht viele, die in die Erlöserkirche kamen, wussten, dass sie mit einem dunklen Kapitel deutscher und damit auch Seckenheimer Geschichte konfrontiert würden. Der Vortrags- und Gesprächsabend war auf Anregung des Historischen Vereins zusammen mit den beiden Kirchen und mit Förderung der Heinrich-Vetter-Stiftung zustande gekommen. Rasch war in aller Deutlichkeit klar, dass das verharmlosende Wort „Euthanasie“ für die Nazi-Verbrecher weit ab von der griechischen Wortübersetzung („gutes/schönes Sterben“) lag, wie Referentin Lea Oberländer unterstrich.

Historischer Verein regt Opfer-Gedenken im Stadtteil an

Sie las aus ihrem Buch „Mannheims verdrängte Opfer“, das den nationalsozialistischen Krankenmord an 1 040 Mannheimer Bürgerinnen und Bürger aufarbeitet. (deutschlandweit fielen der sogenannten „Euthanasie“ mehr als 200 000 Menschen zum Opfer). Von „Gnadentod“ und „Rassenhygiene“ war zynisch die Rede, tatsächlich wurden die Opfer durch Gas, Medikamente, Nahrungsentzug oder bisweilen bei qualvollen medizinische Tests ermordet.

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Lea Oberländer ging eigens auf Seckenheim ein und schilderte die Schicksale der Betroffenen, elf Frauen und zwölf Männer stammten aus dem Stadtteil. Zum Beispiel Katharina, 1874 geboren. Sie wurde nach „Wesensveränderung“ entmündigt und 1922 in die Kreispflegeanstalt Weinheim zur Verwahrung eingewiesen. 20 Jahre später wurde sie in die Tötungsanstalt Grafeneck im Landkreis Reutlingen deportiert. Hier ermordete das NS-Regime in der „Aktion T 4“, fast 11 000 Menschen mit Behinderung. Auch Katharina wurde dort am 15. Oktober 1940, umgebracht. Am 30. November 1940 wurde eine Urne mit Asche, die aus der Verbrennung von mehreren Leichen stammte, auf dem Friedhof Seckenheim beigesetzt.

Am 8. Juli 1933 wurde die vierjährige, geistig behinderte Irmgard in die Kinderanstalt Mosbach gebracht, wo sie ihre Mutter wohl öfters besuchte. Am 17. September 1940 nach Grafeneck deportiert, soll sie am 5. Oktober an der Ruhr-Krankheit verstorben sein, was die Mutter irritierte, wie sie in einem wohl unbeantworteten Brief an den Mosbacher Heimleiter anmerkte. Sie hatte noch 14 Tage zuvor die Tochter besucht und sie „munter und froh“ vorgefunden. Eine Urne, mit Papieren auf den Namen von Irmgard, wurde am 31. Oktober 1940 in Seckenheim beigesetzt.

Lothar war im Alter von 22 Jahren am 14. Juli 1944 angeblich an Darmgrippe verstorben. Er war Sohn eines Polizeiwachtmeisters aus der Bühler Straße und wurde in Hadamar, 10 Kilometer nördlich von Limburg, ermordet, wo über 14 000 Menschen von 1941 bis 1945 umgebracht wurden. Seckenheims Opfer waren durchschnittlich 40 Jahre, die jüngste sieben, der älteste 80 Jahre alt.

Um die Tötungsmaschinerie zu verschleiern waren nicht nur die Erkrankungen als Todesursache erfunden, was bei Mitbürgern in Seckenheim Argwohn erweckte. Auch hatte es eine Predigt von Kardinal von Galen am 3. August 1941 gegeben, in der er ausdrückte, „dass die zahlreichen unerwarteten Todesfälle von Geisteskranken absichtlich herbeigeführt werden“. Sein Versuch zu verhindern, unschuldige Menschen zu töten, blieb erfolglos, immerhin machten seine Worte die Runde.

Nach dem Vortrag drückten Besucher ihre Betroffenheit aus, betonten, dass so etwas nie wieder passiern dürfe, man den Anfängen wehren müsse, und sie stellten Fragen. Neben Lea Oberländer und Marco Brenneisen, Experte der Mannheimer NS-Geschichte im Marchivum, antworteten auch Pfarrer Victor von Hoff und Wilhelm Stamm von Seckenheims historischem Verein und riefen zur Teilnahme am künftigen Arbeitskreis zum Euthanasiegedenken auf.

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