Zwangssterilisationen - Mobiles Mahnmal als späte Geste der Entschuldigung bei den NS-Opfern und Denkanstoß für die Gegenwart

Unmenschlichkeit als Justizakt

Von 
Thorsten Langscheid
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Künstler Michael Volkmer und Oberbürgermeister Peter Kurz (r.) bei der Enthüllung des Mahnmals für die Opfer der Zwangssterilisation.

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Ein erst spät und teilweise noch unvollständig aufgearbeitetes Kapitel der Geschichte des Unrechts, das im Namen des Volkes unter der nationalsozialistischen Herrschaft begangen wurde, sind die Zwangssterilisationen aufgrund der NS-Rassegesetze, denen über 350 000 Menschen zum Opfer fielen. Gestern enthüllten der Arbeitskreis Justiz und Geschichte des Nationalsozialismus, Amtsgerichtspräsidentin Gabriele Meister und Oberbürgermeister Dr. Peter Kurz vor dem Gerichtsgebäude am Schloss-Westflügel in der Bismarckstraße ein Mahnmal für die Opfer dieses nach 1945 noch lange verschwiegenen Verbrechens.

In Mannheim, wo eines der reichsweit mehr als 200 sogenannten "Erbgesundheitsgerichten" sein menschenverachtendes und in letzter Konsequenz tödliches Wirken entfaltete, wurden über 1000 physisch und psychisch Kranke, Behinderte, Benachteiligte oder wegen ihrer Abstammung in die Fänge von Justiz, Ärzteschaft und Behörden geratene Opfer auf gerichtliche Anordnung hin unfruchtbar gemacht - und die Täter, darauf wies Oberbürgermeister Kurz hin, hätten zunächst kein Schuldbewusstsein gehabt, denn ihr Gedankengut vom "werten und unwerten Leben" habe mit der NS-Diktatur nicht begonnen und nach 1945 auch nicht geendet.

Zur Rechenschaft gezogen wurde von den Tätern keiner, wie die Arbeitskreis-Mitglieder um Barbara Ritter gestern erläuterten. Die Anordnungen und Urteile der "Erbgesundheitsgerichte" wurden auch erst 1998 formell außer Kraft gesetzt - viel zu spät, um begangenes Unrecht wieder gut zu machen. Peter Häberle vom Stuttgarter Justizministerium möchte das Mahnmal, das nach zehnjährigen Vorarbeiten durch den Arbeitskreis von dem Altriper Künstler Michael Volkmer realisiert wurde, deshalb als eine öffentliche, wenn auch späte Geste der Entschuldigung an die Opfer und ihre Angehörigen verstanden wissen. Eine Deutung, der sich auch die Gerichtspräsidentin Meister sowie der stellvertretende Vorsitzende der Ärzteschaft, Dr. Josef Ungemach, bei der Feierstunde im Amtsgericht, anschlossen.

Der Arbeitskreis brachte dabei in einer szenischen Lesung aus den Gerichtsakten drei Fälle vor Augen und machte den Zuhörern, unter ihnen Vertreter der Behörden und des Gemeinderats, die unmenschliche Kälte jener Eingriffe in die intimsten Persönlichkeitsbereiche bewusst - und auch den "Amtseifer", wie Oberbürgermeister Kurz in seiner Ansprache bewegt feststellte, mit dem die damaligen Schulleiter, Ärzte, städtischen Bediensteten oder sogar Pfarrer, die Sterilisationen ihrer als "unwert" eingestuften Schüler, Patienten oder Heimbewohner vorantrieben. Dieser eindringlichen Darstellung setzten Giulia Buscarello (Gesang) und Björn Ammon (Piano) von der Friedrich-List-Schule einen berührenden musikalischen Ausklang entgegen.

Das Mahnmal selbst, ein das Volumen von 1053 Würfeln umfassender Block aus kunststoffumhülltem Beton, soll als mobiler Gedenkstein im jeweils jährlichen Wechsel an den Tatorten und - verbunden mit einem pädagogischen Konzept zur Thematisierung der etwa bei der Frage nach dem Umgang mit Ungeborenen auch heute wieder aktuellen Eugenik - an Schulen aufgestellt werden. Die List-Schule wird Mitte November die erste Patenschaft für das Mahnmal übernehmen.

Arbeitskreis Justiz

  • Der Arbeitskreis Justiz entstand 1994 nach der fehlerhaft zu milden Strafzumessung des Mannheimer Richters Rainer Orlet gegen den wegen Volksverhetzung angeklagten damaligen NPD-Vorsitzenden Günter Deckert.
  • Die Gruppe um Barbara Richter befasste sich seither mit der verbrecherischen NS-Justiz und ihren Opfern. Vor dem Amtsgericht und der benachbarten juristischen Abteilung der Universität wurde auf Anregung des Arbeitskreises ein Mahnmal errichtet.
  • Die Zwangssterilisationen wurden an den Mannheimer Krankenhäusern vorgenommen. lang

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