Als Ihor Kolesnykov ans Telefon geht, ist er gerade auf dem Weg nach Polen. Er will seine Schwester holen. Vor wenigen Tagen hat sie im Keller eines Krankenhauses im zerbombten und umkämpften Charkiw in der Ukraine ein Kind geboren.
Kolesnykov, der auf dem Lindenhof wohnt, beschreibt die Tage rund um die Geburt. Seine Schwester habe sich wie viele andere Zivilisten in Schutzräumen aufgehalten, allerdings hochschwanger. Dann bekommt sie plötzlich Bauchschmerzen. Sie wird in den Krankenhauskeller, die improvisierte „Geburtstation“, eingeliefert. Am Montag kommt dann der kleine Aleksandr zur Welt. Mitten im Krieg.
Zwischen Panik und Glück
Kolesnykov, der nun Onkel ist, blickt auf die letzte Woche zurück. „Wenn ich angerufen hab’, gab es immer zwei Stimmungen, die meine Schwester hatte“, berichtet der Mannheimer. „Einmal war es Panik, die pure Panik. Wenn ich was gesagt hab’ am Telefon, fing sie gleich an zu weinen. Sie hatte die pure Angst“, sagt Kolesnykov. „Dann aber gab es auch Anrufe, da hatte sie eine ganz andere Stimmung. Besonders noch am Wochenanfang. ,Wir schaffen das hier. Wir werden das alles schaffen in der Ukraine. Ich habe ein gesundes Baby geboren’ sagte sie und wirkte sogar glücklich.“
Spenden können in G7,22 abgegeben werden
- In Absprache mit lokalen Hilfsorganisationen (z. B. Caritas, Kulturbrücken Mannheim) organisiert das Start-up MyClarella eine Spendenaktion. Die Organisationen befüllen täglich in Zusammenarbeit mit dem Deutsch-Ukrainischen Verband Rhein-Neckar LKWs und fahren diese in die Ukraine, beziehungsweise an die zu erreichbaren Grenzübergänge.
- Die aufgelisteten Hygieneartikel, Essens- und Medikamentenspenden können zu folgenden Zeiten bei MyClarella in G7,22 in Mannheim abgegeben werden (im Hinterhaus des Gründerinnenzentrums GIG7):
- Dienstag, 8. März bis Freitag, 11. März von 14 bis 17.30 Uhr sowie Samstag, 12.März von 13 bis 17.30 Uhr
- Benötigte Hygieneartikel: Binden, Tampons, Windeln, Pflege- bzw. Feuchttücher, Milde Duschseife ohne Duftstoffe und Zusätze, Zahnpasta, Wundschutzcreme, Stilleinlagen, Nippelcreme
- Essen: Babygläschen, Babynahrung, Milchpulver, Snacks für Kinder, stärkende Energieriegel
- Medikamente/Nahrungsergänzung für werdende Mütter:Folsäure /Eisen/Zink, Schmerzmittel, Fiebersenkende Mittel (auch für Babys/(Klein-)Kinder), mehrfach ungesättigte Fettsäuren LCPs (DHA), Calcium/Magnesium, Vitamin B12, Desinfektionsmittel
- Aufgrund der großen Anzahl an deutschlandweit geleisteten Sachspenden bittet MyClarella von nicht aufgeführten Gegenständen wie Kleidung abzusehen, heißt es.
Doch im Wochenverlauf wandelt sich die Stimmung, parallel zum Verlauf des Krieges. Seine Schwester ruft an, sagt: „Ich kann nicht mehr.“ Daraufhin gelingt ihr die Flucht aus Charkiw. Über Lwiw gelangt sie mit ihrem weiteren Kleinkind und dem Säugling dabei nach Polen. Das Netzwerk von Kolesnykov, der nach seinem Master of Education an der Uni Mannheim im Referendariat ist, und nebenbei Deutsch als Fremdsprache an einer Weinheimer Schule unterrichtet, habe dabei in Polen geholfen, erzählt er. Bekannte und auch „Leute, die ich von der Uni kannte“ haben seine Schwester Olha Holovach in Polen zunächst abgeholt und aufgenommen.
Zwischendrin berichtet Holovach ihrem Bruder am Telefon vom Bahnsteig: „Die Bahnen sind voll, überall Frauen mit Kindern in Windeln, Alte, Familien.“ Wegen dem Stress habe sie danach sehr wenig Milch gegeben, erzählt sie ihm. Nach den Tagen in Bunkern ohne Tageslicht unter ständigen Bombardierungen leiden die Seelen und Körper der Mütter und Kinder gleichermaßen.
Auch zuvor in Charkiw sei Kolesnykovs Schwester lange ohne Milch gewesen: „Ich hatte das erst gar nicht mitbekommen, sie schrieb dann bei Instagram und so: ,Hat jemand Milch, ich gebe keine’“, erzählt Kolesnykov. Und es sei so, dass sich in Charkiw „einige junge Mädels vernetzt“ hätten, um Säuglingsnahrung, Babynahrung und auch Nahrung für Kleinkinder zu verteilen. Und dann wollten sie wieder los. „Konnten sie aber nicht, weil es hatte wieder jemand geschossen“, berichtet Kolesnykov über die Schwierigkeiten bei der Verteilung. „Also ging es erst am nächsten Tag…“ Über Nachrichten in den sozialen Netzwerken vernetzten sich die Menschen notdürftig, um die Versorgung der Mütter und Neugeborenen - so gut es noch ging - zu organisieren.
Ganz spezielle Herausforderung
Auf die Frage nach dem Befinden seiner Schwester sagt Kolesnykov: „Es sind zwei Welten. Hier ist man in Sicherheit, alles ist normal. Man denkt sich: Vielleicht gehe ich später noch zu McDonalds.“ In der anderen Welt, der Ukraine, sei es unvorstellbar. Olha Holovach und ihrem kleinen Aleksandr gehe es zwar den Umständen entsprechend gut, er sei „etwas gelb“ und sehr erschöpft. Wenn er in Mannheim ankommt, wird er erstmal zum Arzt gebracht werden, so Kolesnykov. Der Mann von Holovach musste wie so viele Männer in der Ukraine bleiben.
Indes ruft das Mannheimer Start-up MyClarella zu einer Spendenaktion für Frauen, (Hoch-)Schwangere, Mütter, Neugeborene und Kinder aus der Ukraine auf. Gegründet hatte Clara Teschner ihr Start-up eigentlich, um Mütter nach der Geburt mit vor allem komfortablen Produkten rund um Geburt und Wochenbett zu versorgen. Zum Beispiel Bio-Binden mit stärkster Saugkraft. Oder wiederverwendbare Intimduschen (statt Toilettenpapier, nach einer vaginalen Geburt soll kein Toilettenpapier verwendet werden, sondern nur gespült werden). Zudem spezielle Unterwäsche für nach dem Kaiserschnitt, die dem Körper bei der Rückbildung der Bauchdecke hilft, ohne schmerzhaften Druck auszuüben.
Aufklärendes Wissen um Geburt und Wochenbett ist Teschner ein Anliegen. Nun ist ihr ein weiteres Anliegen, dass den Frauen in dieser speziellen Situation gezielt geholfen wird. Sie spendet selbst einen großen Teil ihres Firmensortiments: „Viele der schwangeren Frauen sind aktuell fast durchgehend auf sich allein gestellt. Hygienische Standards können nach und nach nicht mehr eingehalten werden“, so Teschner. Sie hat sich nun mit Mannheimer Sozialverbänden abgesprochen und die Spendenaktion initiiert (siehe Infobox). „Die physische und psychische Gesundheit verschlechtert sich bei einigen täglich und eine adäquate medizinische Versorgung vor, während und nach der Geburt, sowie der Neugeborenen, kann schon jetzt nicht mehr gewährleistet werden“, so Teschner. Sie findet: „Eine Geburt unter Kriegsbedingungen erleben zu müssen, insbesondere auf der Flucht, und vielleicht noch mit kleinen Geschwisterkindern an der Hand - dafür reicht unsere Vorstellungskraft kaum aus.“ Gezielte Hilfe soll neben den Wöchnerinnen und Schwangeren auch die Neugeborenen und Kleinkinder erreichen.
„Menschen sind super“
Auch Ihor Kolesnykov hat bereits Babynahrung transportiert, als er vor einigen Tagen allgemeine Hilfstransporte in die Ukraine organisiert hat. „Hoffentlich passt das alles rein, aber sie brauchen so viel“, sagt er mit Blick auf die Lage. Und er fügt zu den Transporten hinzu: „Wissen Sie, es gibt ja hier in Deutschland immer Leute und Politiker, die auf Leute mit Migrationshintergrund schimpfen“, sagt Kolesnykov. „Beim Kistentragen, da haben zwei Türken mit angepackt und die haben dann alle ihre Jungs geholt. Die haben alle mitgeholfen. Später kamen noch Syrer und Iraner, die verstehen kein Wort Deutsch, ich sag’s Ihnen, sie haben sowas von mit angepackt. Das sind richtige Ukrainer, haben wir gesagt“, sagt der Mannheimer und seiner angespannten Stimme entweicht ein Lachen. „Im Alten Testament heißt es ja schon: Alle sprechen irgendwie eine Sprache obwohl sie verschiedene sprechen“, sagt er. Und „auch die Russen helfen mit, es gibt ja Leute, die sagen, dass man sich jetzt verfeinde. Aber das stimmt nicht. Wir wissen ganz genau, dass es in Russland ,Die Regierung’ und ,Die Menschen’ gibt“, so Kolesnykov. „Es ist einfach wahnsinnig, wie viel die Leute hier tun, und wie sie helfen und wie sie spenden. Manchen spenden mehr, als sie haben. Menschen sind super.“
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